Polarrot
dir meine Tochter zuvorkommen. Ich kann ja dann nichts mehr machen. Außer ein Glas Gewürztraminer auf dich heben. Und das mache ich jetzt gleich
.
Viel Glück, Köbeli. Habe dich sehr gern gehabt
.
Lina
Breiter starrte lange auf das Papier. Dann nahm er den Hotel-Bleistift vom Schreibtisch und schrieb. „Ich dich auch, Lina. Und ein Glas werde ich heute Abend ebenso heben. Und einfach danke. Danke für alles. Köbi“
Er faltete das Papier zusammen, nahm das Geld aus dem Umschlag, steckte den Brief hinein, legte den Umschlag zurück in das Glas „Miete“, schloss den Deckel und entschied, dass dieses Kässeli ab sofort für immer und ewig in diesem Zustand zu bleiben habe.
Er bestellte eine Flasche Gewürztraminer und einen Wurstkäsesalat aufs Zimmer und nahm sich vor, ein verspätetes Frühstück in Solothurn einzunehmen.
Die Zugfahrt dauerte. Doch im Gegensatz zu den rußigen, dreckigen und rumpelnden Dampfzügen Deutschlands hatte man bei den beinahe durchwegs elektrifizierten Bahnlinien der Schweiz das Gefühl, mit einer Schwebebahn unterwegs zu sein. Am Bahnhof angekommen, ging er über die Rötibrücke zum Baseltor. Die Aare floss ruhig und zäh vor sich hin. Breiter erinnerte das Gewässer eher an einen größeren Teich denn an einen Fluss. Der Rhein nahm sich dagegen wie ein reißender Wildbach aus.
Obwohl er am Brückenende gleich nach links in die Altstadt hätte abbiegen können, nahm er den Umweg durch das Stadttor. Die Stadt, in der er vielleicht eine Zeit lang leben wollte, musste schon durch den geschichtsträchtigen Zugang betreten werden.
Überhaupt, imponierend, die Schanzenanlage und dieses quadratische Tor, das von zwei runden Wehrtürmen, gemauert aus meterdicken, abgerundeten Quadern und versehen mit großen Schießscharten, eingeklemmt wird. Die Stadt hatte und wusste sich zu wehren.
In gerader Haltung durchschritt er das Tor und als er wieder in das Licht der wärmenden Septembersonne trat, wurde sein Blick von der mächtigen St. Ursus-Kathedrale, deren weißer Stein die Pflasterung der vorgelagerten Plätze aufhellte, angezogen. Die Treppe zum Eingang der Kirche war gemacht für große Auftritte. Der vor rund hundert Jahren hier heimisch gewordene Bischof von Basel gibt auf der zweimal elfstufigen Treppe sicherlich eine perfekte Figur ab, wenn er die Fronleichnam-Prozession anführt oder Firmlinge vor den Altar geleitet.
Breiter spazierte an der Kathedrale vorbei, vorbei am Hotel Couronne, vorbei am Fischbrunnen bis zum Roten Turm mit der astronomischen Uhr, dem geharnischten Ritter, der sich bei jedem Viertelstundenschlag auf den Brustpanzer schlägt, dem König mit der Narrenkappe, der sein Zepter jede Stunde hebt und wieder fallen lässt sowie den mit einem Leintuch bedeckten Tod, der seine Sanduhr unmittelbar davor umdreht. So wurden die Solothurner zu jeder Stunde an die pfäffisch geprägten Bilder ihrer Vergänglichkeit gemahnt.
Neben dem Roten Turm befand sich ein gleichnamiger Gasthof und Breiter kehrte ein. Der „Rote Turm“ war ein ehrwürdiger alter Gasthof mit einer langen und bewegten Vergangenheit: Juwelendiebe aus der Vatikanstadt, Revoluzzer, aber auch heiß begehrte und ebenso resolute Wirtinnen, die den Sperrstundenkontrolleuren öfters mal das Nachtwasser über den Kopf leerten, bereicherten das Personeninventar des Gasthauses.
Breiter gefiel die Gaststube im ersten Stock, die warme, kastanienbraune Täfelung an den Wänden, die Schokoladegelüste hervorrufenden Email-Werbungen an den Wänden sowie die fesche Bedienung, die sich als Tochter der Besitzerfamilie vorstellte und hoch erfreut darüber war, Breiter die geheimen Zutaten der Solothurner Torte zu erklären.
Die Torte hatte einen Deckel wie eine große Oblate – was konnte man in dieser stockkatholischen Stadt, die für sich sechsundsechzig Märtyrer der Thebäischen Legion samt ihrer Gebeine reklamiert, Anderes erwarten – die aber anstelle des nach nichts schmeckenden ungesäuerten Teigs aus einer luftig leichten Meringue bestand. Unter der Meringue folgte eine dünne Schicht zartschmelzender Buttercrème, darunter ein leichter Biskuit, wieder Crème, und der Boden war wie der Deckel aus Meringue. Und jeder einzelnen Lage waren feinst gemahlene Haselnüsse beigemischt.
Der erste Bissen schmeckte vorzüglich. Und auch jeder weitere. Kaffee hatte Breiter schon besseren gehabt, aber das wäre neben dieser wunderbaren Torte zu viel eines geradezu überschwänglichen Empfangs in der ehemaligen
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