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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Restgeld hineingetan. Aber warum zu „Kleider“?
    Er hielt sich nicht länger mit der Frage auf, betrachtete „Steuern“, leer wie immer, und das war auch gut so, in „Träume“ waren 237 Franken, das Überbleibsel nach dem Kauf von „Leni“.
    Hatte er noch Träume oder sollte er das Kässeli in „Kühe“ umtaufen? Ein Traum wäre vielleicht, Charlotte wiederzusehen. „Ist es auch ein Wunsch?“ fragte er sich. „Es ist ein Traum. Ein Wunsch wäre eine weitere Kuh zum Beispiel.“
    In „Überraschungen“ waren noch die dreißig Franken, die von Rosie übrig geblieben sind. Wie es ihr und Willy wohl ging? Hatten sie bereits weitere Kinder? Nachwuchs für die Partei? Sollte er sie ihnen als Unterstützung schicken? Aufstocken auf zweihundert? Eine halbe Jahresmiete? Willy würde sie aus falschem Stolz verschmähen und postwendend zurücksenden.
    Da blieb noch das leere „Wünsche“, das Kässeli, das ihm Vittorio noch zusätzlich gemacht hatte. „Sicher, Bub, komm hierher, wenn die Kasse für Wünsche voll ist“, hörte er ihn sagen. Ob er wohl noch lebte? Irgendwo in den Hügeln um Turin. Mit Flaschen großer, alter Bordeaux, die Bezeichnungen wie „Dolcetto“ oder „Barbera“ trugen. Er nahm sich vor, sollte der Krieg einmal vorbei sein, ihn zu suchen und zu besuchen. Und fände er auch nur sein Grab.
    So stand er vor seinen Kässelis und wusste eigentlich nicht, in was er das Geld investieren sollte. Ein neues aufmachen? Es „Nachkrieg“ nennen, „Zukunft“? Oder wie bereits erwogen „Kühe“? Nein, nein, er hatte ja nicht die Absicht, ein jurassischer Rinderbaron zu werden. Entnervt von der eigenen Unentschlossenheit stopfte er den größeren Teil der Noten in „Träume“ und den Rest in „Wünsche“.
    Die Tatsache, dass die Schweizer Regierung angesichts der unablässig steigenden Flüchtlingszahlen immer ernsthafter in Betracht zog, die Grenzen ganz zu schließen, ließ die Masse der Fluchtwilligen auf der französischen Seite des Flusses nicht etwa abschwellen.
    Sie ließen sich auch nicht durch die endgültige Grenzschließung im Spätsommer 1942 mit massiv verstärkten Patrouillen davon abbringen, ihr Leben in die Schweiz zu retten. Auch nicht durch die Verschärfung schweizseits, dass, wer innerhalb eines Kordons von etwa zwölf Kilometern als Flüchtling aufgegriffen, direkt wieder an die Grenze gestellt wurde. Und ließ derjenige sich wiederholt erwischen, wurde er gleich den Deutschen übergeben, die ihn in den nächsten Zug nach Auschwitz setzten.

 
    „Yves a une cigarette pour Jacques.“
    Jacques horchte auf.
    „Nous disons: Yves a une cigarette pour Jacques.“
    Breiter hatte Lust auf Musik gehabt. Bei der Sendersuche blieb er an einem französischen Chanson, das ihm gefiel, hängen. Er war dabei, einen Riss in einer Kuhglocke zu reparieren. Vertieft in seine Arbeit nahm er „Yves“ und „Jacques“ wahr, hörte nochmals hin und war sich sicher: sie waren gemeint.
    Dass Yves Beziehungen zur Résistance hatte, wusste er ja, aber dass sie bis nach London reichen würden, dies hätte er ihm dann doch nicht zugetraut, diesem drahtigen, flinken Hinkebein. Nun gut, es musste ja eine wichtige Lieferung sein, wenn sie von London aus annonciert wurde.
    Es nieselte leicht, Nebelschwaden hingen im Flusstal. Der Abstieg war glitschig und durch die dicht stehenden Bäume war da und dort flussaufwärts ein Aufblitzen von Lampen zu sehen. Scheinbar hatten die Schweizer Grenzsoldaten bei La Goule die Festbeleuchtung angezündet. Also keine Gefahr.
    Als er aus dem Schutz des Waldes hinaus auf die Schwemminsel trat, hörte er flussabwärts, wahrscheinlich beim Stauwehr von Le Theusseret, zwei Schüsse. Das Echo der Schüsse peitschte durch das enge Tal, so dass er sich instinktiv duckte. Als es wieder ruhig war, er sich aufrichtete, trat Yves mit einem Mann in einem Regenmantel aus dem Wald und winkte kurz. Breiter warf das an einem Stein befestigte Seil über den Fluss, Yves band es dem Mann um den Rumpf und schickte ihn los.
    Zweimal fiel er hin. Trottel, dachte Breiter, spannte das Seil und half ihm so, wieder auf die Beine zu kommen. Tropfnass und mit einem Köfferchen in der rechten Hand erschien er bei Breiter.
    Breiter bugsierte ihn sofort in den Wald hinein und bedeutete ihm mit dem Finger vor dem Mund, keinen Mucks zu machen. Der Mann zitterte wie Espenlaub. Ob vor Furcht oder Kälte war Breiter egal. Hauptsache er war gut bei Fuß.
    Breiter rieb Daumen an Mittelfinger vor

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