Polarrot
dem Gesicht des Mannes, dieser verstand und übergab ihm nasse, Schweizer Hunderternoten. Breiter zählte kurz nach und gab ihm dann das Zeichen zum Aufbruch.
Der Flüchtling fiel beim Aufstieg noch mehrere Male hin, in den steilsten Passagen musste ihn Breiter mehrmals stützen, derart erschöpft war der Mann.
In Breiters Haus angekommen, gab er ihm Milch, Brot und Käse, was der Mann geradezu verschlang, dann wies er ihm das Strohlager hinten im Stall neben dem Traction Avant zu, gab ihm noch zwei Wolldecken und löschte das Licht.
Am anderen Morgen, nachdem Breiter die Kühe gemolken und auf die Weiden getrieben hatte, ging er zurück in den Stall und betrachtete den schlafenden Mann. Er lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt, die Beine halb angezogen, und die Wolldecken hielt er wohl mit den verborgenen Händen unter dem Hals fest. Er trug einen grauen Bart.
Eine feine Nickelbrille lag auf dem Köfferchen, neben dem die nassen Schuhe standen. Die Socken hatte er über die Scheinwerferhalterung des Traction Avant gehängt. Es war kein armseliger Anblick. Ein Stück Menschenwürde war noch da. Vielleicht wurde sie durch die sorgfältig hingelegte Brille auf dem Koffer signalisiert. Oder die Socken bei den Lampen? Breiter zuckte mit den Schultern und ließ ihn schlafen. Doch irgendetwas kam ihm bekannt vor. Er wusste nur nicht, was.
Breiter stach ein paar Rüben aus, als der Flüchtling aus dem Stall trat, zu Breiter kam, sich bei ihm für die geglückte Flucht bedankte sowie für die Umstände entschuldigte, die er ihm mache und fragte, wo er sich erleichtern und wo er sich rasieren könne. Breiter zeigte ihm das Latrinenhäuschen hinter dem Stall und wies ihn an, sich im Keller zu rasieren. Er mache unterdessen einen Kaffee.
„Sie haben Kaffee? Echten Kaffee?“, fragte der Mann erstaunt.
„Ja.“
„Oh, habe ich ein Glück. Danke.“
„Machen Sie jetzt, dann ist er noch heiß.“
„Ja, ja.“
Breiter deckte Teller und Messer auf, stellte Brot, Butter, Käse und Brombeermarmelade – noch von Elsie, 1940 – hin und wusste schlagartig, wen er vor sich hatte, als Isaak Mayer, frisch rasiert, durch den Türrahmen schritt und sich über Kaffee, Brot, Butter, Marmelade und Käse hermachte.
„Isaak Mayer, meine Goldgrube. Was mache ich jetzt“, schoss es ihm durch den Kopf. „Ganz ruhig, Jacques, wie immer, denken. Also: Welche Vorteile könnten sich aus der Situation ergeben?“
Er goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein und setzte sich ans obere Ende des Tisches, schlug die Beine übereinander, strich sich durch seinen mächtigen Bart und beobachtete Mayer, wie er nur mit viel Mühe seine Gier zügeln konnte.
„Wer hat das eingefädelt?“, fragte Breiter Mayer unvermittelt.
„Was eingefädelt?“
„Dass Sie nach über tausend Kilometern Flucht genau bei mir landen, Heilandsack?“
„Ist das wichtig?“, fragte Mayer zurück, ohne Breiter anzuschauen.
„Sie suchten mich. Sie wollten zu mir. Also wer hat das organisiert?“
„Ist das denn wirklich so wichtig?“
„Für mich: ja!“
„Sehen Sie, ich bin Ihnen einfach sehr dankbar, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Ich habe dafür auch eine erkleckliche Summe bezahlt. Und ich will Ihnen auch nicht länger zur Last fallen. Also, Sie geben mir das Gold, und ich gehe wieder.“
„Gut. So haben Sie sich das gedacht.“
„Es wäre das Beste für uns beide.“
„Sie wissen, wo das Gold ist?“
„In Mariastein, nehme ich an. Wie vereinbart.“
„Ja, wie vereinbart. Aber Sie wissen auch, wie nah der Kreuzweg an der Grenze liegt?“
„Ja, die Grenze ist gleich dahinter, gegen die Ruine Landskron zu.“
„Genau. Da herrscht zurzeit ein Gewimmel an Soldaten, die mit entsichertem Gewehr die Schweiz vor dem Ansturm von Flüchtlingen schützen. Und da, denken Sie, fährt der Breiter jetzt hin, gräbt das Gold aus, übergibt es Ihnen und bedankt sich artig für den Auftrag?“
„Ich würde Ihnen für das Risiko einen weiteren Goldbarren bezahlen.“
„So, so.“
„Entschuldigung, das war dumm von mir.“
„Das kann man so sagen.“
„Ja, dann gehe ich nach Biel zu Rabbi Lauer und seiner Frau.“
„Wenn Sie es nicht bis nach Biel schaffen, werden Sie umgehend wieder an die Grenze zurückgebracht. Wir befinden uns im Zwölf-Kilometer-Kordon, da gibt es keine Anhörungen, nur ein einziges Verfahren: Zurückweisung.“
„Aber Sie könnten mich nach Biel bringen.“
„Und dann? Wissen Sie, was Ihr Rabbi Lauer dann
Weitere Kostenlose Bücher