Polarsturm
hundertsechzig Jahren in einer Eisscholle stecken geblieben, von ihrem Schwesterschiff getrennt und von den gewaltigen Treibeismassen durch die Viktoriastraße nach Süden geschoben worden. Dem Untergang auf See entronnen, war sie schließlich in die Rinne geworfen und allmählich im Eis begraben worden.
Das Eis umschloss den Rumpf und hielt das Schiff mit der Backbordseite an dem steilen Hang fest. Alle drei Masten standen noch, wenn auch schräg und mit einer Eisschicht überzogen, die sie an den Höhenzug nagelte. Die Steuerbordseite und das Deck hingegen waren erstaunlich eisfrei, wie Pitt und Giordino feststellten, als sie die Rinne hinaufmarschierten und über die Bordband stiegen. Ehrfürchtig und ergriffen sahen sich die beiden um, konnten kaum fassen, dass sie gerade über das Deck von Franklins Flaggschiff schritten.
»Schmilz das Eis ab, dann sieht sie aus, als könnte sie nach England zurücksegeln«, bemerkte Giordino.
»Wenn sie Ruthenium geladen hat, schlage ich vor, dass wir vorher einen Abstecher zum Potomac machen«, wandte Pitt ein.
»Ich wäre schon mit ein paar Decken und einem Schuss Rum zufrieden.«
Die Männer zitterten und kämpften darum, dass ihre Körpertemperatur nicht weiter sank. Beide merkten, dass sie allmählich immer teilnahmsloser wurden, und Pitt war klar, dass sie so schnell wie möglich irgendetwas zum Aufwärmen brauchten. Er trat an den Niedergang hinter der Hauptluke und zog eine Segeltuchabdeckung weg, die ihm in den Fingern zerbröselte.
»Hast du Licht?«, fragte er Giordino, während er in den dunklen Schiffsbauch spähte.
Giordino zückte ein Zippo-Feuerzeug und warf es ihm zu. »Das will ich aber wiederhaben, falls sie kubanische Zigarren an Bord haben sollten.«
Pitt stieg die schiefen Sprossen hinab und entzündete das Feuerzeug, als er im Unterdeck war. Er entdeckte zwei mit Kerzen bestückte Laternen an der Wand und hielt die Flamme an die beiden schwarzen Dochte. Die uralten Kerzen brannten noch einwandfrei und tauchten den Gang in einen orange flackernden Lichtschein. Giordino schnappte sich eine mit Walöl betriebene Laterne, die daneben an einem Nagel hing und ihnen bei der weiteren Erkundung des Schiffes gute Dienste leisten konnte.
Als sie in den Gang vordrangen, bot sich ihnen ein aberwitziger Anblick, der von Mord und Totschlag kündete. Im Gegensatz zur
Terror
, die so ordentlich gewirkt hatte, musste auf der
Erebus
ein einziges Chaos geherrscht haben. Überall lagen Kisten, Abfälle und Trümmer herum, dazwischen Blechnäpfe, und ein leichter Rumgeruch hing in der Luft, dazu eine ganze Reihe anderer Moderdünste. Und dann die Leichen.
Als sie einen kurzen Blick in die Mannschaftsunterkünfte werfen wollten, wurden Pitt und Giordino von einem grusligen Paar empfangen – zwei Männern, die am Boden festgefroren waren. Dem einen war mit einem Ziegelstein, der neben ihm lag, der Schädel eingeschlagen worden, aus dem Brustkorb des anderen ragte ein Küchenmesser. Sie waren tiefgefroren und so gut erhalten, dass Pitt noch ihre Augenfarbe erkennen konnte. Dann stießen sie auf eine ganze Reihe weiterer Leichen, und Pitt hatte den Eindruck, dass diese Toten irgendwie gepeinigt wirkten, so als wären sie nicht nur den Elementen zum Opfer gefallen, sondern etwas weitaus Schrecklicherem.
Ohne sich von diesem Bild des Grauens lange aufhalten zu lassen, kehrten Pitt und Giordino zum Niedergang zurück und stiegen ins Orlopdeck hinab. Als sie auf eine Plünnenkammer stießen, verschoben sie die Suche nach dem Ruthenium vorübergehend. Hier war die Oberbekleidung für die Besatzung eingelagert, Regale voller Stiefel, Jacken, Mützen und dicker Socken. Die beiden entdeckten zwei dicke wollene Offiziersjacken, die ihnen einigermaßen passten, mummten sich damit ein und nahmen Pudelmützen und Fäustlinge mit. Sobald ihnen wieder einigermaßen warm war, setzten sie die Suche fort.
Auch auf dem Orlopdeck sah es chaotisch aus, ähnlich wie oben. Die hohen Stapel leerer Fässer und die Unmengen von Proviantkisten legten Zeugnis von den großen Vorratsmengen ab, die das Schiff mitgeführt hatte. Sie traten ins Zahlmeisterbüro, in dem die Waffen und Alkoholvorräte des Schiffes verwahrt wurden. Hier war nur ein Musketenschrank heil geblieben, sonst aber war alles kurz und klein geschlagen, Rum- und Brandyfässer vor allem, die überall zersplittert herumlagen, dazu jede Menge Blechnäpfe. Sie drangen weiter in Richtung Heck vor und stießen auf große Verschläge,
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