Pole Position: Sebastian Vettel - sein Weg an die Spitze (German Edition)
Und dafür gilt es, den optimalen Schleifpunkt der Kupplung zu finden, der je nach Asphaltbeschaffenheit und -temperatur um Nuancen variieren kann. Nuancen aber entscheiden, ob der Sprint von null auf hundert tatsächlich in zweieinhalb Sekunden klappt. Bevor es wirklich losgeht, wird all das auf der Formationsrunde etliche Male überprüft. Aber zuvor gilt es noch, einen ganz anderen Slalom zu meistern.
Rummelplatz
Die Startaufstellung ist das Schrillste, das Verrückteste, das Turbulenteste, was Nicht-Rennfahrer an einem Grand-Prix-Wochenende unmittelbar erleben können. Die Autos werden von den Mechanikern auf die Startplätze geschoben, wo sie aufgebockt und an Laptops angeschlossen werden. Die sensiblen Reifen werden in Heizdecken gepackt. Generatoren röhren, um Strom zu erzeugen. Trockeneis, das zu hohe Temperaturen im Motor verhindern soll, dampft. Die Grid Girls lächeln. TV -Teams schwirren umher, auf der Suche nach Interviews. Wie muss sich das anfühlen, unmittelbar vor einem Moment, in dem das Leben auf dem Spiel steht, noch interviewt zu werden? In anderen Sportarten wäre das undenkbar. In der Formel 1 aber scheint in diesem Augenblick alles möglich. Auch Fans dürfen in die Startaufstellung, allerdings nur die wirklich wichtigen und prominenten. Konzernvorstände, Pop-, Kino-und Sport-Größen, Könige, Politiker. Es geht ums Sichzeigen und Gesehenwerden – und natürlich funktioniert das dort am besten, wo sich die meisten Objektive aufgebaut haben: ganz vorne, bei demjenigen, der auf der Pole Position steht. Dort geht es zu wie in der Fußgängerzone am verkaufsoffenen Sonntag. Es wird geschoben und gedrängelt, gegrüßt und gelacht. Mitunter nimmt der Zirkus absurde Züge an. Michael Schumacher musste bei seinem letzten Rennen für Ferrari im Jahr 2006 in São Paulo damit leben, dass ihm unmittelbar vor dem Start Pelé noch schnell eine Trophäe überreichte. Die Fahrer können sich dem Getümmel nicht entziehen. Es ist ein erster Höhepunkt der Aufführung, der Moment, in dem die flirrende Spannung, die sich über Tage aufgebaut hat, am intensivsten ist und die einmalige Mischung aus Sport und Show und Geschäft, die die Formel 1 so groß gemacht hat, am greifbarsten. Die meisten Piloten versuchen kleine Fluchten. Sie eilen noch einmal zur Toilette. Michael Schumacher hält das immer so. Nur einmal, 2003 in Imola, hat er es nicht so gehalten: Dort blieb er im Auto sitzen, seinen Helm auf dem Kopf, das Visier geschlossen. Seine Mutter war in der Nacht zuvor gestorben. Trotzdem trat er an. Mit Trauerflor am rechten Arm fuhr er zu seinem 65. Sieg.
Es gibt einen Film, der die Atmosphäre an der Rennstrecke einfängt wie kaum ein anderer: »Le Mans«, mit Steve McQueen, aus dem Jahr 1971. In diesem Film wird viel Auto gefahren und wenig gesprochen. Im Grunde fasst ein Zitat des Hauptdarstellers alles zusammen, was in 104 Minuten passiert: »Rennen fahren ist Leben. Die Zeit dazwischen ist Warten.« In den Minuten, bevor sie tatsächlich in die Autos dürfen, muss das Warten für die Rennfahrer am quälendsten sein, auch für die, die weit nach 1971 geboren wurden. Viele versuchen, einen Schleier zwischen sich und das quirlige Treiben zu legen, setzen eine Sonnenbrille auf, stecken sich Kopfhörer in die Ohren, hören Musik. Lewis Hamilton, Jahrgang 1985, steht auf Hip-Hop, Rhythm and Blues und Reggae. Timo Glock, Jahrgang 1982, mag Guns N’ Roses, die Red Hot Chili Peppers, AC / DC . Jaime Alguersuari, Jahrgang 1990, mischt selbst elektronische Musik, im eigenen Studio, das er in Barcelona, seinem Wohnort, unterhält. Auch für Sebastian Vettel gehört Musik zum Vorlauf. Wenn es eng wird, vor der Qualifikation und vor dem Rennen, greift er zum iPod und wählt dort den Ordner »Attacke«: nichts Romantisches, möglichst kein Gesang, harte Melodien, die die Lust aufs Angreifen anheizen – das sind die Kriterien für das, was dort landet. »Eye of the Tiger«, der »Rocky«-Soundtrack, ist ein Klassiker in der Kategorie. Am Samstag, als er zum Zeitfahren für die Qualifikation in die Garage ging, hielt er das auch so, wobei er beobachtet wurde. Auf die Frage, was er in dem Moment gehört habe, hatte er später im Scherz geantwortet: »Die Kastelruther Spatzen.« In der Startaufstellung zum Großen Preis von Japan, dem Rennen, in dem er gleich zum zweiten Mal Weltmeister werden will, bekommt er beim Interview von RTL -Reporter Kai Ebel deshalb eine CD überreicht – einen Volksmusik-Sampler.
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