Polgara die Zauberin
ließ.
Ich verbrachte die ganze Nacht im Baum in der Hoffnung, die erzwungene Trennung werde Beldaran zur Vernunft bringen. Meine Schwester jedoch barg unter dem liebreizenden, sonnigen Wesen einen eisernen Willen. Sie zog mit Vater in seinen Turm, und nachdem ich mich etwa einen Tag lang unendlich einsam gefühlt hatte, schloß ich mich ihnen mürrisch an.
Das soll nicht heißen, daß ich viel Zeit in Vaters unordentlichem Turm verbracht hätte. Ich schlief dort, und hin und wieder aß ich zusammen mit meinem Vater und meiner Schwester, aber es war Sommer. Mein Baum war das Zuhause, das ich brauchte, und meine Vögel leisteten mir Gesellschaft.
Wenn ich jetzt zurückschaue, entdecke ich eine eigenartige Zweigleisigkeit in meinen Motiven während jener ›Sommerferien‹ im Astwerk des Baums. Zuallererst wollte ich natürlich Beldaran für ihren Verrat bestrafen. Aber tatsächlich blieb ich in dem Baum, weil es mir dort gefiel. Ich liebte die Vögel, und Mutter war fast unablässig bei mir, während ich durch die Zweige kletterte, wobei ich häufig andere Gestalten als meine eigene annahm. Ich gelangte zu der Einsicht, daß Eichhörnchen sehr agil sind. Natürlich konnte ich mich immer in einen Vogel verwandeln und einfach zu den obersten Zweigen hinauffliegen, aber es liegt eine gewisse Befriedigung darin, wirklich hinaufzuklettern.
Es war Hochsommer, als ich die Gefahren entdeckte, die mit einer Existenz als Nagetier einhergehen. Nahezu alle Tiergattungen in der Welt, vielleicht mit Ausnahme von Goldfischen, betrachten Nagetiere jeglicher Art, von der Maus aufwärts, als reine Futterquelle. Eines strahlenden Sommermorgens hüpfte ich in der Wipfelregion des Baums von Ast zu Ast, als ein vorbeifliegender Falke mich zu seinem Frühstück erkor.
»Laß es lieber bleiben«, warnte ich ihn in verächtlichem Tonfall, als er auf mich herabstürzte.
Er schrak zusammen, seine Augen blickten verblüfft. »Polgara?« fragte er verwundert. »Bist du es wirklich?«
»Natürlich, du Trottel.«
»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte er sich. »Ich habe dich nicht erkannt.«
»Du solltest besser aufpassen. Alle möglichen Lebewesen verfangen sich in Schlingen mit Ködern, nur weil sie glauben, es gäbe umsonst etwas zu essen.«
»Wer würde mir denn eine Falle stellen wollen?«
»Das möchtest du gewiß gar nicht herausfinden.«
»Hättest du Lust, mit mir zu fliegen?« bot er mir an.
»Woher weißt du, daß ich fliegen kann?«
»Kann das nicht jeder?« gab er zurück. Er klang ein wenig erstaunt. Offensichtlich war er ein sehr junger Falke.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich genoß unseren Flug trotzdem. Jeder Vogel fliegt ein wenig anders, aber diese mühelose Art des Dahingleitens, emporgetragen von unsichtbaren, vom Erdboden aufsteigenden Säulen warmer Luft, vermittelt einem ein unglaubliches Gefühl von Freiheit.
Schon gut, ich fliege gerne. Hat jemand etwas dagegen?
Vater hatte sich entschlossen, mich in jenem Sommer mich selbst zu überlassen. Wahrscheinlich, weil ihm der Klang meiner Stimme auf die Nerven ging. Einmal kam er jedoch zum Baum – vermutlich auf Beldarans beharrliches Drängen hin. Er unternahm den Versuch, mich zur Rückkehr nach Hause zu überreden. Er war allerdings derjenige, der eine starke Dosis meiner Überredungsgabe abbekam. Ich ließ meine Vögel auf ihn los, und sie vertrieben ihn.
Im Verlauf der folgenden Wochen bekam ich meinen Vater und meine Schwester gelegentlich zu Gesicht. In Wahrheit schaute ich hin und wieder vorbei, um zu sehen, ob ich irgendwelche Anzeichen unterdrückten Kummers an meiner Schwester entdecken konnte. Falls Beldaran jedoch Kummer litt, verbarg sie ihn gut. Vater zog sich während meiner Besuche in eine Ecke zurück. Er arbeitete scheinbar an irgend etwas Winzigem, aber ich war im Grunde gar nicht besonders interessiert daran, zu erfahren, worum es sich handelte.
Es war im Frühherbst, als ich schließlich herausfinden sollte, woran er so emsig gearbeitet hatte. Eines Morgens kam er zu meinem Baum, und Beldaran war bei ihm. »Ich habe etwas für dich, Polgara«, sagte er zu mir.
»Ich will es nicht«, ließ ich ihn von meinem sicheren Ausguck herab wissen.
»Benimmst du dich jetzt nicht ein bißchen lächerlich, Pol?« warf Beldaran ein.
»Das liegt in der Familie«, entgegnete ich.
Dann tat Vater etwas, was er mir gegenüber äußerst selten getan hatte. In dem einen Moment kauerte ich noch bequem in meiner hohen Warte zwanzig Fuß über dem Erdboden, im nächsten
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