Polgara die Zauberin
unverzüglich durch die Luft getragen. Ich drehte ein paar Kreise, lernte mit jedem Flügelschlag dazu, und dann wurden meine Kreise unaufhaltsam weiter.
Das Fliegen vermittelte ein Glücksgefühl, das zu beschreiben ich gar nicht erst versuchen werde. Als die Dämmerung den Horizont im Osten zu färben begann, war ich ein geschickter und erfahrener Vogel, und mein Geist war von einer Freude erfüllt, die ich nie zuvor erlebt hatte.
»Du kehrst jetzt besser in den Turm zurück«, riet Mutter mir. »Eulen pflegen tagsüber nicht umherzufliegen.«
»Muß ich wirklich schon?«
»Ja. Laß uns unser kleines Geheimnis noch für uns behalten. Außerdem mußt du dich noch in deine eigene Gestalt zurückverwandeln.«
»Mutter!« widersprach ich heftig.
»Morgen nacht können wir weiterspielen, Pol. Und jetzt geh heim und verwandele dich zurück, bevor jemand aufwacht«
Ich war nicht gerade glücklich darüber, aber ich tat, wie geheißen.
Nicht lange nach diesem Vorfall nahm Beldaran mich beiseite. »Onkel Beldin bringt Vater ins Tal zurück«, teilte sie mir mit.
»Oh? Woher weißt du das?«
»Mutter hat es mir erzählt – in einem Traum.«
»Ein Traum?« Das bestürzte mich.
»Sie spricht immer in meinen Träumen mit mir. Ich habe es dir schon erzählt.«
Ich entschloß mich, kein Aufhebens davon zu machen, nahm mir jedoch vor, mit Mutter darüber zu reden. Zu mir kam sie immer, wenn ich hellwach war, meine Schwester dagegen besuchte sie aus irgendeinem Grund in der nebelhaften Welt der Träume. Ich fragte mich, warum sie diesen Unterschied zwischen uns machte. Und ich fragte mich auch, warum Mutter Beldaran von der Heimkehr unseres vagabundierenden Vaters erzählt hatte, sich jedoch nicht die Mühe gemacht hatte, mich darüber zu informieren.
Es war Frühsommer, als Onkel Beldin Vater schließlich ins Tal zurückbrachte. Über all die Jahre hinweg, nachdem Vater das Aldurtal verlassen hatte, hatte Beldin seine Spur verfolgt und über seine zahlreichen Eskapaden berichtet, so daß ich jetzt nicht allzu gespannt auf seine Heimkehr war. Ich mußte mir eingestehen, daß mein Vater ein mit Bier abgefüllter Wüstling war, und das erschien mir wenig reizvoll.
Er sah gar nicht allzu schlimm aus, als er die letzten Treppenstufen zu Beldins Turm erklomm, aber ich wußte, daß Äußerlichkeiten trügen können.
»Vater!« rief Beldaran aus und flog über den Boden, um sich ihm in die Arme zu werfen. Versöhnlichkeit ist eine Tugend, ich weiß, aber Beldaran übertrieb es manchmal.
Ich tat etwas, was zu diesem Zeitpunkt nicht besonders nett war. Meine einzige Entschuldigung dafür ist in der Tatsache zu suchen, daß ich bei Vater keinesfalls den trügerischen Eindruck erwecken wollte, seine Heimkehr sei Anlaß zu allgemeinem Jubel. Ich haßte ihn wohl nicht, aber ich mochte ihn auch nicht sehr. »Nun, alter Wolf«, sagte ich zu ihm in so verletzendem Tonfall, wie ich konnte, »wie ich sehe, hast du dich entschlossen, an den Ort des Verbrechens zurückzukehren.«
K APITEL 3
Anschließend ging ich dazu über, meinem Vater die Meinung zu sagen. Gründlich. Ich ließ ihn – ausführlich – wissen, was ich von ihm hielt, da ich ihn keinesfalls den Eindruck gewinnen lassen wollte, Beldarans zuckersüße Darbietung sei die hier vor Ort vorherrschende Stimmung. Darüber hinaus wollte ich meine Unabhängigkeit beweisen, und ich glaube, das ist mir gelungen. Es war alles nicht besonders nett, aber ich war damals ja erst dreizehn und hatte mir gewisse Ecken und Kanten noch nicht abgestoßen.
Also schön, laßt uns gleich hier und jetzt etwas klarstellen. Ich bin keine Heilige, habe nie vorgegeben, eine zu sein. Gelegentlich hat man mich ›heilige Polgara‹ genannt, und das ist das Absurdeste, was ich je gehört habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach können nur andere Zwillinge meine Gefühle als Kind richtig verstehen. Beldaran war der absolute Mittelpunkt meines Lebens, sie war es gewesen, noch bevor wir geboren waren. Beldaran gehörte mir, und meine Eifersucht und mein Haß kannten keine Grenzen, als Vater mir ihre Zuneigung ›wegnahm‹. Beldaran und all ihre Gedanken gehörten mir, und er hatte sie mir gestohlen! Meine höhnische Bemerkung über den ›Ort des Verbrechens‹ setzte etwas in Gang, das sich noch jahrhundertelang fortsetzen sollte. Ich habe ganze Stunden damit zugebracht, diese gehässigen kleinen Bemerkungen zu polieren, und ich bewahre jede einzelne von ihnen als teure Schätze in meinem Gedächtnis auf.
Viele
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