Polgara die Zauberin
ruhig. In den abgelegenen Bergdörfern von Sendarien ist es üblich, daß die Bewohner den Namen des derzeitigen Königs nicht kennen und der Tod einer Kuh ein ganzes Jahr lang zum Hauptgesprächsstoff wird.
Im Jahre 5345 dann kamen Vater und die Zwillinge nach Annath. »Du solltest ein paar Leute kennenlernen, Pol«, teilte Vater mir mit. »Beltira und Belkira können dich hier vertreten, während ich dich mitnehme und ein paar Leuten vorstelle, von denen du die letzten dreitausend Jahre im Mrinkodex gelesen hast.«
Ich hatte wirklich nichts dagegen. Fürs erste hatte ich genug von ländlicher Abgeschiedenheit.
Wir überquerten die algarische Grenze, und ich begegnete dem grimmig dreinblickenden kleinen Jungen namens Hettar. »Ich glaube, der wird uns Schwierigkeiten machen, Vater«, prophezeite ich, als wir aus König ChoRams Lager fortritten.
»Möglich, Pol«, stimmte er mir zu.
»Wahrscheinlich müssen wir ihn an einen Pfahl ketten, wenn er erwachsen wird. Ich habe für Murgos ja auch nicht viel übrig, aber Hettar macht fast so etwas wie eine Religion daraus.«
»Die Murgos haben seine Eltern getötet, Pol.«
»Ja. Er erzählte es mir. Aber er wird eines Tages König der Algarer sein, und dieser glühende Haß wird uns noch etliche Schwierigkeiten bereiten.«
»Ich komme schon mit ihm zurecht, Pol«, meinte Vater zuversichtlich.
» Natürlich, Vater«, erwiderte ich. »Wohin reiten wir als nächstes?«
»Boktor. Mach dich auf etwas gefaßt, Pol. Prinz Kheldar ist ein aalglatter junger Mann.«
»Er ist doch erst zehn, Vater.«
»Ich weiß, aber sieh selbst.«
Kheldar erwies sich sogar als noch schlüpfriger als dieser Fisch. Er war charmant, von ausgesuchter Höflichkeit und völlig skrupellos. Seltsamerweise mochte ich ihn.
Dann gingen Vater und ich nach Trellheim in Cherek, um Barak und seinen Vetter, Kronprinz Anheg, zu treffen. Als ich die beiden das erstemal sah, hatte ich eine dieser sonderbaren Anwandlungen, die uns manchmal überkommen. Es war beinah, als sei Anrak, Eisenfausts Vetter, von den Toten auferstanden. Barak und Anheg waren beide Chereker bis ins Mark, und ihr wißt, was das heißt. Sie waren dennoch außergewöhnlich intelligent, was sie aber gut zu verbergen verstanden.
Mittlerweile war es Spätherbst geworden, und Vater brachte mich nach Annath zurück. »Mit den anderen können wir nächsten Sommer sprechen, Pol«, sagte er. »Ich wollte, daß du zuerst die Alorner kennenlernst. Sie dürften am ehesten Probleme machen.«
»Ich dachte, du magst die Alorner, Vater.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du verbringst eine Menge Zeit mit ihnen.«
»Ich muß eine Menge Zeit mit ihnen verbringen, Pol. Jeder Alorner ist eine potentielle Katastrophe. Der Meister hat mir vor ungefähr fünftausend Jahren den Auftrag erteilt, ein Auge auf die Alorner zu haben, und das hat sich zu einer lebensfüllenden Aufgabe ausgewachsen. Er sagte, ich solle es tun, also tue ich es. Gefallen muß es mir allerdings nicht.«
»Du bist ja so ein braver Junge, Vater.«
Im folgenden Frühjahr erklang wieder Mutters Stimme in meinem Kopf. »Es ist Zeit für dich, wieder die Schulbank zu drücken, Pol«, verkündete sie.
»Aha?«
»Es gibt da eine Reihe Dinge, die du ziemlich bald beherrschen mußt.«
»Zum Beispiel?«
»Du wirst wissen müssen, wie man mit den Erinnerungen der Menschen spielt.«
»Würdest du bitte ›spielen‹ etwas näher erklären, Mutter?«
»Ich möchte, daß du übst wie man Leute Dinge vergessen läßt, so wie damals, als wir mit deiner Ausbildung angefangen haben. Und dann wirst du lernen, wie man diese Erinnerungen mit den Abbildern von Ereignissen ersetzt, die sich gar nicht zugetragen haben.«
»Können wir das wirklich tun?«
»Ja, das können wir. Die Menschen tun es übrigens auch die ganze Zeit selbst. Es ist eine Möglichkeit die Realität zu ändern. Der Fisch, der dir entwischt ist, wird mit der Zeit immer größer.«
»Weißt du, das ist mir auch schon aufgefallen. Wie gehe ich vor?«
Ihre Erläuterung war recht rätselhaft, da es um eine besondere Eigenheit des menschlichen Gedächtnisses ging. Wenn man es recht betrachtet, entspricht nur etwa die Hälfte unserer Erinnerungen realen Geschehnissen. Wir neigen dazu, das Vergangene abzuändern, damit wir vor uns und unseren Mitmenschen besser dastehen. Wenn unser Tun nicht sehr bewundernswert war, haben wir den Hang, es einfach zu vergessen. Der Wirklichkeitssinn eines durchschnittlichen menschlichen Wesens ist bestenfalls
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