Polgara die Zauberin
dürftig. Unser Leben ist in unserer Erinnerung meist viel netter.
Um zu üben, pfuschte ich – am Rande – in den Erinnerungen einiger Bewohner von Annath herum. Es war wirklich recht leicht.
»Warum lerne ich das, Mutter?« fragte ich nach ein paar Wochen.
»Im Mrin werden – wenn auch nur am Rande – eine Reihe von Menschen erwähnt. Ich denke, wir sollten sie uns einmal ansehen, um sicherzustellen, daß sie auch wirklich auf unserer Seite stehen werden.«
»Jeder in den Königreichen des Westens wird auf unserer Seite stehen, Mutter.«
»Darum geht es, Pol. Diese Menschen stammen nicht aus dem Westen. Sie leben in Gar og Nadrak.«
K APITEL 38
»Diese Kleider kann ich unmöglich in der Öffentlichkeit tragen, Mutter!«
»Sie stehen dir aber sehr gut. Damit zeigst du eben Figur.« »Das kann ich auch, wenn ich gar nichts anhabe! Ich zeige mich nicht in der Öffentlichkeit mit etwas, das so eng anliegt wie eine zweite Haut!«
»Es scheint mir aber in der Tat noch etwas zu fehlen.«
»Aha. Du hast es also doch bemerkt.«
»Sei lieb. Ah, jetzt fällt es mir ein. Wir haben die Dolche vergessen.«
»Dolche?«
»Vier für gewöhnlich – zwei an deinem Gürtel und zwei in deinen Stiefelstulpen.«
»Warum so viele?«
»Das ist eine nadrakische Sitte, Pol. So lassen nadrakische Frauen die Männer wissen, daß Anschauen in Ordnung geht. Anfassen ihnen aber Ärger einbringt.«
Die Zwillinge vertraten mich in Annath bis zu Vaters Eintreffen, und Mutter hatte mich in den Wald mitgenommen, um mich mit einigen Besonderheiten der nadrakischen Bräuche und Bekleidung vertraut zu machen. Die Kleidung, die sie für mich ausgesucht hatte, bestand aus schwarzen Lederstiefeln, einer eng anliegenden schwarzen Lederhose und einer noch enger anliegenden schwarzen Weste. Die bloße Aufzählung mag männlich klingen, aber als ich sie angezogen hatte, sah ich, daß niemand bezüglich meines Geschlechts im unklaren bleiben würde. Ich erkannte augenblicklich, wozu nadrakische Frauen Dolche benötigten – viele Dolche. »Sind die nadrakischen Männer sich darüber im klaren, was die Dolche bedeuten?« fragte ich.
»Für gewöhnlich, ja – wenn sie nüchtern sind. Aber hin und wieder packt sie der Spieltrieb, und dann muß man ihnen auf die Finger klopfen. Ein paar Schnitte und Stiche überzeugen sie meist.«
»Versuchst du witzig zu sein?«
»Das würde ich doch nie tun! «
Ich erschuf mit meinem Willen vier ulgonische Messer. Wenn ihr jemanden einschüchtern wollt, zeigt ihm ein ulgonisches Messer. Der Anblick gebogener Spitzen und gezähnter Klingen bereitet den meisten Menschen Übelkeit.
»Die sind ja grauenvoll Pol!«
»Nicht wahr? Ich möchte sicherstellen, daß niemand so betrunken ist, daß er Risiken eingeht.«
»Du weißt aber, daß das deinen Preis drücken wird, nicht wahr?«
»Meinen Preis?«
»Nadrakische Frauen sind Eigentum eines Mannes, Pol. Das weiß doch jeder.«
»O ja. Das hatte ich ganz vergessen. Gibt es noch etwas, was du mir zu erzählen vergessen hast?«
»Du wirst ein Halsband tragen müssen – geschmackvoll mit Edelsteinen besetzt, wenn du teuer bist. Mach dir aber wegen der Kette keine Gedanken. Nadrakische Frauen legen die Kette nur bei offiziellen Anlässen an. Irgendwo auf unserem Weg nach Yar Nadrak werden wir anhalten, damit du eine Nadrakerin tanzen siehst. Das wirst du auch lernen müssen.«
»Ich kann bereits tanzen, Mutter.«
»Nicht so, wie man es in Gar og Nadrak gerne sieht. Wenn eine nadrakische Frau tanzt, fordert sie jeden anwesenden Mann heraus. Das ist der Hauptgrund für die Dolche.«
»Warum tanzen sie so, wenn sie solche Schwierigkeiten deswegen bekommen?«
»Wahrscheinlich, weil es Spaß macht, Pol. Es macht die nadrakischen Männer absolut verrückt.«
Mir wurde klar, daß die Nadrakerinnen die Freizeitbeschäftigung des ›Herzenbrechens‹ zum Äußersten getrieben hatten. Dieser kleine Ausflug ließ sich interessanter als erwartet an.
Dann verschmolzen Mutter und ich in die Gestalt eines Falken und flogen nach Nordosten ins Land der Nadraker. Die beiden Männer, die wir suchten, hielten sich in der Hauptstadt Yar Nadrak auf, aber Mutter schlug vor, daß wir zuerst in einer namenlosen Siedlung in den endlosen Wäldern von Gar og Nadrak haltmachten, um die Darbietung einer nadrakischen Tänzerin namens Ayalla zu verfolgen.
Die Siedlung hatte diese schludrige, ›dasistgutgenug‹Aura an sich, die in Gar og Nadrak üblich zu sein scheint. Die Gebäude bestanden
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