Polgara die Zauberin
der Prophezeiung machte es nahezu unmöglich zu sagen, wann genau diese Dinge eintreten würden, aber irgendwie gewann man das Gefühl, sie lägen zeitlich sehr weit auseinander. Ich war immer davon ausgegangen, daß meine Lebensspanne außergewöhnlich lang sein würde, aber der Mrinkodex stellte mich unvermittelt vor eine noch beunruhigendere Wahrheit. Offenbar würde ich Tausende von Jahren leben, und wenn ich die drei alten Männer um mich herum betrachtete, gefiel mir diese Vorstellung überhaupt nicht. ›Verehrungswürdig‹ ist ein Begriff, den man häufig auf Männer in einem gewissen Alter angewendet findet, und dabei schwingt eine Menge Achtung mit. Aber ich hatte noch nie jemanden von einer ›verehrungswürdigen‹ Frau reden hören. Der Begriff, den man in diesem Fall benutzt, ist ›alte Vettel‹, und der hatte in meinen Ohren keinen guten Klang. Vielleicht war es ein wenig eitel, aber die Vorstellung von Vetteltum trieb mich sofort vor meinen Spiegel. Eine genaue Prüfung meines Spiegelbildes ergab jedoch keine Falten – noch nicht zumindest.
Wir vier brachten etwa zehn Jahre – oder waren es nur neun? – damit zu, unsere gesamte Aufmerksamkeit dem Darinekodex zuzuwenden. Dann schickte der Meister Vater nach Tolnedra, um sich um diese Verbindung der Boruner mit den Dryaden zu kümmern. Vaters Einsatz von Schokolade, um die Dryadenprinzessin Xoria zu seiner Sicht der Dinge zu bekehren, ist mir schon immer mehr als nur ein wenig unmoralisch erschienen.
Nein, ich werde das jetzt nicht weiter vertiefen.
Die Zwillinge und ich blieben im Tal und arbeiteten am Darinekodex, und allmählich begann sich bei uns eine Art von genereller Vorstellung von dem herauszukristallisieren, was die Menschheit erwartete. Keinem von uns gefiel das, was wir voraussahen, besonders gut. Auf uns würden eine Menge Unruhen, häufige Kriege und unabsehbares menschliches Leid zukommen.
Drei weitere Jahre vergingen, und dann erklang eines Abends Mutters Stimme mit für sie ungewohnter Dringlichkeit in meinen Gedanken. »Polgara« sagte sie. »Geh zu Beldaran! Sofort! Sie ist sehr krank! Sie braucht dich!«
»Was ist denn, Mutter?«
»Ich weiß nicht. Beeil dich! Sie stirbt Polgara!«
Das erfüllte mich mit tödlicher Angst und schnell lief ich zum Turm der Zwillinge. »Ich muß weg«, rief ich ihnen die Treppe hinauf zu.
»Was ist los, Pol?« rief Beltira zurück.
»Beldaran ist krank – schwer krank. Ich muß zu ihr. Ich bleibe in Verbindung mit euch.« Dann stürzte ich wieder nach draußen, bevor sie mir die Frage stellen konnten, woher ich denn wüßte, daß meine Schwester so krank sei. Mutters Geheimnis mußte unter allen Umständen gewahrt werden. Ich wählte für die Reise die Gestalt eines Falken. Geschwindigkeit war lebenswichtig, und Eulen fliegen nicht sehr schnell.
Es war mitten im tiefsten Winter, als ich das Tal verließ und an den östlichen Ausläufern der Gebirgskette von Ulgoland entlang nordwärts schoß. Ich wählte diese Route, weil ich wußte, daß mich im Gebirge Stürme erwartet hätten, und ich wollte auf keinen Fall aufgehalten werden. Ich flog so weit nördlich bis kurz vor Aldurford, wobei ich beständig ein Auge auf die Gipfelkette hatte, die Algarien von der sendarischen Ebene trennt. Es war klar ersichtlich, daß sich ein wahrhaft übles Wetter über diesen Bergen zusammengebraut hatte. Schließlich blieb mir aber keine andere Wahl. Ich mußte nach Westen abdrehen und geradewegs in die Fänge dieses tosenden Sturms hineinfliegen. Manchmal ist es möglich, über einen Sturm hinwegzufliegen. Sommerplatzregen und Frühlingsschauer sind ziemlich überschaubar. Winterstürme hingegen umfassen gewaltige Luftmassen, die sich so hoch auftürmen, daß es nahezu unmöglich ist, sie zu überfliegen. Ich kämpfte mich also hindurch, während der Wind mein Gefieder zerzauste und der beißende Schnee mich fast blendete. Ich war am Ende meiner Kräfte und hatte keine andere Wahl, als in ein geschütztes kleines Tal hinunterzutrudeln, mich auszuruhen und wieder Kräfte zu sammeln.
Am nächsten Tag versuchte ich mich nahe am Boden dieser gewundenen Täler zu halten, um dem schlimmsten Sturm aus dem Weg zu gehen, aber schon bald mußte ich erkennen, daß ich mich durch Meile um Meile schneegesättigter Luft quälte, ohne auch nur im mindesten voranzukommen. Grimmig schwang ich mich wieder empor in die volle Wucht des Sturms.
Schließlich überflog ich den Gebirgskamm und glitt an der westlichen Flanke zur
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