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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Lösung stößt: Das Interieur des Guillemain’schen Hauses ist von keinerlei Indizien weiblichen Gestaltungswillens geprägt. Es ist spartanisch, nüchtern, karg. Ein Heim für einen Mann. Für einen anspruchslosen, biederen und alleinstehenden Mann.
    Als Kriminalbeamter weiß man selbstverständlich, wo man Zahl, Geschlecht und Alter der in einer Wohnung oder einem Haus lebenden Menschen rasch und zuverlässig feststellen kann: im Badezimmer. Und tatsächlich findet Polivka hier keine Spur von Lippenstiften und Parfüms, von Hautcremes oder sonstigen Kosmetika. Nur einen Nassrasierer, Seife, Zahnpasta und (das bestätigt den Verdacht endgültig) eine vereinsamte Zahnbürste auf der verchromten Stellage neben dem Waschbecken.
    Als Polivka ins Schlafzimmer zurückkehrt, fällt ihm doch noch etwas auf: Am Fußende des Betts liegt eine leere Reisetasche, deren Tragegurt die Banderole einer Fluggesellschaft ziert: ein rot-gelbes Papierband mit dem weißen Schriftzug der Iberia-Airlines.
    Spanien, denkt Polivka. In einem spanischen Zug hat sich doch heuer auch schon jemand das Genick gebrochen …
    «Brauchen Sie noch lange, Chef?», dringt ein verhaltener Ruf aus dem Parterre zu ihm.
    «Entspannen Sie sich, Hammel. Hier hat nur der Mann gewohnt, und der wird nicht mehr hier vorbeischauen.» Polivka steigt die Treppe hinab. «Haben Sie im Keller nichts gefunden?»
    Anfangs ärgert er sich noch, dass Hammels Antwort ausbleibt. Dann, in Anbetracht des Mienenspiels seines Kollegen, überkommt ihn ein spontaner Anflug von Belustigung: Hammels ohnehin leicht käsiges Gesicht ist leichenblass, die kleinen roten Lippen stehen offen wie bei einer dieser aufblasbaren Puppen. Hammels Wangen zittern.
    Schließlich aber hört auch Polivka es selbst.
    Das Knirschen eines Schlüssels in der Eingangstür.
    Und ehe die zwei Herren Reißaus nehmen können, tritt sie auch schon in den Vorraum.
    Sie.
    Sophie Guillemain.

8
    Die ersten drei Sekunden sind es, die entscheiden. Während dieser kurzen Spanne machen alle Sinne sozusagen Überstunden. Freund und Feind, Terrain und Möglichkeiten werden eingeschätzt, die Weichen Richtung Angriff oder Flucht, Verhandlungen oder Kapitulation gestellt.
    Nicht mehr als drei Sekunden.
    Der erste Blick der Frau trifft Hammel, und er löst beachtliches Erschrecken bei ihr aus. Beachtlich insofern, als Hammel (dem sie ja noch nie begegnet ist) zwar überraschend, aber alles andere als bedrohlich vor ihr steht. Er gibt vielmehr das sprichwörtliche Bild eines Kaninchens vor der Schlange ab, nur dass sich diese Schlange nun anscheinend selbst für ein Kaninchen vor der Schlange hält.
    Im nächsten Augenblick bemerkt sie Polivka. Bevor sie seine ihr bereits vertrauten Züge mit dem richtigen Karteieintrag aus ihrer zerebralen Datenbank verknüpfen kann, blitzt eine Spur von Sympathie in ihren Bernsteinaugen auf – ein Körnchen Wohlwollen, unbewusst und daher umso ehrlicher, wie Polivka (ebenso unbewusst) registriert.
    Bevor Sekunde Nummer eins zu Ende geht, haben die Beteiligten schon allerhand geleistet: Sie haben das Schlachtfeld vermessen, den Gegner taxiert und einfache chemische Chiffren gesendet.
    In der zweiten wird die Kommunikation komplexer; das Gehirn beginnt sich einzumischen, um die bislang unverfälschten zwischenmenschlichen Signale zu verzerren. Gleich wird der Marktplatz öffnen, und so ordnen die Händler noch rasch ihre Waren, die repräsentativsten ganz nach vorn, die hässlichen nach hinten, in den Schatten. Denn verkauft wird heute ohnehin nicht en detail, es geht um alles oder nichts, es geht ums Ganze.
    Viel hat Polivka nicht aufzubieten. Nur dass er, einem dubiosen Argwohn folgend, schwer betrunken eine sehr spontane Reise angetreten hat. Das weist ihn zwar als kapriziösen Trottel aus, aber doch wenigstens als interessanten kapriziösen Trottel. Wirklich schlecht steht ihm dagegen zu Gesicht, dass ihn Madame auf frischer Tat bei einem Einbruch in das Haus ihres verstorbenen Herrn Gemahls ertappt hat. Und entsprechend inferior ist seine äußere Erscheinung: ungewaschen, schmutzig, schäbig. Ein Verbrecher.
    Andererseits, denkt Polivka, hält diese Amélie oder Sophie (oder wie immer sie sich nennt) auch nicht die besten Karten in der Hand. Mit ihren Lügen und mit ihrer Flucht hat sie ihn schließlich überhaupt erst nach Méru gelockt. Infam die Schwindelei mit ihrer Unkenntnis der deutschen Sprache. Eine Dolmetscherin! Man muss auf der Hut bei ihr sein; wer weiß, was sie

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