Polivka hat einen Traum (German Edition)
fadisiert sein, Hammel, wenn sie dich sehen. Ein Routinefall, werden sie sagen.»
Polivka spürt, wie ihm die Nässe in die Hose dringt: Hammels Kopf in seinem Schoß, sitzt er in einem warmen Teich, der sich rund um sein Hinterteil im weichen Leder der déesse gebildet hat. Ein schlieriges Gemisch aus Blut und Gehirnflüssigkeit. Die Hose wird nicht mehr zu retten sein.
Genauso wenig Hammels linkes Auge. Das Stahlrohr hat es regelrecht aus der Augenhöhle gestanzt. Teile des Stirn- und des Jochbeins sind dabei gebrochen, so die Diagnose Polivkas, der über primitive Erstversorgungskenntnisse verfügt. Also: Die Wunde mit einem sauberen Tuch bedecken, Kopf und Oberkörper hochlagern und darauf achten, dass der Gehirnliquor abfließen kann, damit der Schwellungsdruck im Schädel nicht zu groß wird.
Hammel atmet, immerhin.
«Gut machst du das. Wir sind gleich da. Ich glaub, ich kann den Eiffelturm schon sehen …»
Die Horte der Genesung und der Obsorge besitzen in modernen Staaten einen eigenen, unverwechselbaren Charme. Sie präsentieren sich dem Betrachter mit dem Habitus sakraler Wichtigkeit, und wie bei Kirchen, Tempeln und Moscheen steckt auch hier der eigentliche Wert im Unsichtbaren. Hält man sich die Zimmerpreise durchschnittlicher Krankenhäuser im Vergleich zu ihrem Mobiliar vor Augen, muss man zu dem Schluss gelangen, dass es sich um Kult- und Opferstätten für ein höheres Wesen handelt. Für ein Wesen, das sich – ohne jeglichen Bezug zu Trivialitäten wie Behaglichkeit oder Ästhetik – umsorgen, mästen und vergöttern lässt.
Auch in den ausgedehnten Warteräumen des Hôpital européen Georges-Pompidou regieren Neonlicht und Plastiksessel. Bunte Plastiksessel immerhin (sie sollen eine Art von Kindergartenfröhlichkeit verströmen). Festgeschraubte Plastiksessel wohlgemerkt (man hat es hier bisweilen auch mit Patienten aus den Vororten zu tun). Es ist ein Ort der radikalen Reduktion aufs Funktionelle – baulich ebenso wie menschlich.
Aber Perserteppiche und offene Kamine würden Polivka jetzt ohnehin nichts helfen. Die Werkstatt, denkt er, darf ruhig ungemütlich sein, solange die Mechaniker den Hammel wieder reparieren.
Seit einer Stunde liegt der havarierte Hammel im OP. Sophie Guillemain hat in der Notaufnahme Dampf gemacht; der lautstarke Wortschwall, mit dem sie Sanitäter und Ärzte mobilisierte, kaum dass sie aus der déesse gesprungen war, klingt noch jetzt in Polivkas Ohren nach.
Ein grüner Stuhl für sie, ein roter für ihn, so sitzen sie nebeneinander und warten – Polivka verzweifelt, wütend und erschöpft, Sophie mittlerweile betreten und still, das Inbild des schlechten Gewissens.
Die Minuten tröpfeln vor sich hin wie Morphium aus einer viel zu schwach dosierten Infusion. Die Neonröhren sirren. Am anderen Ende der Halle flattert ein lindgrüner Kittel vorbei, ein Hohepriester auf dem Weg zum Nachtgebet. Hinter gepolsterten Pforten werden jetzt geheime Rituale abgehalten: Sieben Nonnen kleiden ihren Papst in Sack und Asche, flüstern ihm okkulte Formeln zu. Der Papst trägt einen Hahnenkamm auf seinem Scheitel. Er zückt einen Federhalter, kratzt sein Signum auf vergilbte Pergamente. «Hier noch», raunt der Hohepriester ihm ins Ohr, «für unsere afrikanischen Toten. Und hier unten, Eure Heiligkeit: der Auftrag für die neuen Katakomben.» Die Nonnen tanzen wie in Trance, die Beine unter ihren Tuniken sind dünn und schwarz: Ameisenbeine …
«Wie bitte?», schreckt Polivka aus einem dumpfen Halbschlaf hoch.
Sophie Guillemain sieht ihn nicht an. «Ich habe Sie gefragt, ob Sie Geschwister haben.»
«Nein … Ich bin ein Einzelkind.»
«Lassen Sie uns eine rauchen gehen, Herr Polivka.»
10
«Sie müssen wissen, dass ich nicht in Frankreich aufgewachsen bin. Mein Vater war zwar Franzose, ein kleiner Handlungsreisender aus Amiens, aber meine Mutter gebürtige Deutsche. Sie haben sich Ende der Sechziger in Hamburg kennengelernt und sind da geblieben, bis ich zehn Jahre alt war. Dass ich also beide Sprachen beherrsche, ist nur zum Teil meinem späteren Übersetzerstudium geschuldet. Lavoix , so lautete mein Mädchenname, und nach meiner Scheidung habe ich mir überlegt, ihn wieder anzunehmen. Vielleicht würde ich das auch tun, wenn … Ja, wenn ich damals allein in der Wiege gelegen hätte. Aber ich bin kein Einzelkind wie Sie, Herr Polivka, ich habe einen Zwillingsbruder. Und seit gestern weiß ich, dass ich nie wieder denselben Namen tragen will wie er.
Hervé und
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