Polivka hat einen Traum (German Edition)
manchmal auch Konzepte und Projektbeschreibungen für Förderansuchen.
Anfang 2010 wurde ich von einer Firma namens Smart Security Solutions engagiert, die ein Büro in Brüssel unterhält. Ich sollte einen Geschäftsbericht übersetzen, der die Leistungen von SSS im Rahmen eines EU-Förderprojekts beschrieb. Sagt Ihnen INDECT etwas? Nein? Das ist ein fünfjähriges Forschungsvorhaben der Europäischen Union und zielt – im Sinne präventiver Polizeiarbeit – auf eine lückenlose Überwachung der Bevölkerung ab. Mit einem Netz aus stationären oder auch auf ferngelenkten Drohnen angebrachten Echtzeitkameras werden alle Straßen kontrolliert; eine spezielle Software löst Alarm bei sogenanntem abnormem Verhalten der Passanten aus – etwa, wenn sie ungebührlich lang an einer Ecke stehen. Mit Hilfe biometrischer Gesichtserkennung werden dann die Namen der Verdachtspersonen festgestellt und in Sekundenbruchteilen mit allen verfügbaren Vorrats- und Hintergrunddaten in den Rechenzentren der Behörden verknüpft. Also: Alter, Wohnort, finanzieller Status und Beruf, Tabak- und Alkoholkonsum, Familienstand und Kaufverhalten, Krankheiten, geplante und frühere Auslandsreisen, Mitgliedschaften in Vereinen, Freundeskreis und politische Einstellung. Wenn Sie mir das nicht glauben, schauen Sie ins Internet und suchen Sie nach dem Wort INDECT .
Natürlich wird es immer wieder Leute geben, die an Orwell’schen Machtphantasien Gefallen finden; der Skandal ist nur, dass die EU, das heißt wir alle, diese Obszönität mit elf Millionen Euro Steuergeld subventionieren.
Smart Security Solutions sind – neben anderen Firmen und Institutionen – an INDECT beteiligt; sie sind sozusagen mit dem Werkschutz betraut: In erster Linie stellen sie die Sicherheitsleute, die darauf achten, dass keine sensiblen Informationen nach außen gelangen. Immerhin sind neun Universitäten in die Sache eingebunden, und die zählen ja nicht gerade zu den klassischen Hochburgen der Geheimhaltung.
Das Praktische an Getrieben ist, dass sich ihre einzelnen Rädchen nie für das Ganze verantwortlich fühlen: Moral lässt sich nun einmal nicht in kleine Häppchen aufteilen. Also machte auch ich meine Arbeit und kassierte meinen Lohn. Mein Auftraggeber – ein gewisser Gallagher – war freundlich und korrekt, das Honorar zufrieden stellend. Als Gallagher am Telefon zu mir sagte, er hoffe, auch in Zukunft auf meine Dienste zählen zu dürfen, kam mir der Gedanke, meinen Bruder zu erwähnen. Hier eine Sicherheitsfirma, dachte ich, und da ein arbeitsloser Ex-Soldat mit Nahkampfausbildung und Fronterfahrung. Ich fand, es sei an der Zeit für Hervé, sich wieder eine Anstellung zu suchen, wenn auch als Nacht- oder Leibwächter – er hatte ja nichts anderes gelernt.
Und Gallagher biss an. Er lud Hervé zu einem Vorstellungsgespräch nach Brüssel und stellte ihn zwei Tage später ein.
Ich weiß nicht, welche Aufträge Hervé von SSS bekam; er hüllte sich immer in Schweigen. Überhaupt ließ er sich nur noch selten bei uns blicken, und ich sah darin ein Zeichen, dass er eine Aufgabe gefunden hatte, die ihn interessierte. Wenn er Jacques und mich von Zeit zu Zeit besuchte und ich ihn nach seiner Arbeit fragte, grinste er verschwörerisch und flüsterte mir zu, er sei Geheimagent, und er agiere derartig geheim, dass er nicht einmal mit sich selbst darüber reden dürfe.
Im Sommer letzten Jahres ließen Jacques und ich uns scheiden, und ich zog nach Amiens. Wir hatten zwar vereinbart, weiterhin Kontakt zu halten, aber Freundschaft ist nun einmal etwas anderes als Liebe, Wohlwollen etwas anderes als Sehnsucht: Bald bekam ich Jacques nicht mehr viel öfter zu Gesicht als meinen Bruder.
Umso überraschter war ich vor drei Wochen, als er mich eines frühen Morgens anrief und meinte, er müsse mich sprechen. Er klang aufgeregt, geradezu verstört. Dabei war Jacques ein Mann, dem kaum etwas die Ruhe rauben konnte; er pflegte sein Nervenkostüm genauso in Ordnung zu halten wie seine Hemden und Anzüge. Ich wusste, dass er nach Madrid zu einer internationalen Instrumentenbaumesse gefahren war und erst Ende Mai zurückkehren wollte, also dachte ich zunächst, es handle sich um so etwas wie … eheliche Nachwehen. Vielleicht war er ja mit einer Flasche Wein und einer schönen Spanierin im Bett gelandet und wurde nun von melancholischen Gefühlen geplagt.
Doch das war nicht der Grund für seinen Anruf.
Seinen wirren, atemlosen Worten konnte ich entnehmen, dass es um
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