Polivka hat einen Traum (German Edition)
ich, wir haben uns immer gut verstanden. Nein: Wir waren ein Herz und eine Seele. Auch das müssen Sie wissen, um mich zu verstehen. Die Eltern sind gestorben, als wir fünfzehn waren, im Juni 1988, bei einem grauenhaften Zugunglück am Gare de Lyon. Ja, ein Zugunglück; es gibt seltsame Zufälle …
Wir beschlossen damals, uns gemeinsam durchzuschlagen, koste es, was es wolle. Wir versuchten alles, um nicht zu Pflegeeltern abgeschoben zu werden. Und es ist uns schließlich auch gelungen, so lange Sand in die Mühlen der staatlichen Wohlfahrt zu streuen, bis wir volljährig waren – und frei. So etwas schweißt noch fester zusammen. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, dass einmal der Tag kommt, an dem … an dem ich Hervé verraten werde.
Verschieden waren wir seit jeher. Ich selbst habe immer bedauert, nicht früher geboren worden zu sein, die Hippiebewegung verpasst zu haben. Woodstock, Gras und Liebe statt Konsum und Krieg, das wäre ganz meines gewesen. Stattdessen musste ich erleben, wie Reagan und Thatcher der westlichen Welt ihren Stempel aufdrückten, wie sie einer Gesellschaft den Weg ebneten, die von rücksichtsloser materieller Gier getrieben wird.
Wie auch immer. Hervé hat sich für derlei Dinge nie sehr interessiert. Er war vor allem – ich kann es nicht anders sagen – verspielt. Daher auch diese infantile Schwärmerei für alles Militärische. Jungs schießen eben gern, zuerst mit Steinen, dann mit Gummischleudern, dann mit Pfeil und Bogen und zum Schluss mit Sturmgewehren und Haubitzen. Es hatte keine ideellen Gründe, dass er sich nicht lange nach seinem Militärdienst wieder zur Armee gemeldet hat; er ist im Grunde seines Herzens einfach nur ein Junge geblieben.
2006 wurde Hervé nach Afghanistan geschickt; er blieb dort bis 2009, als ihm eine Granatenexplosion das linke Trommelfell zerfetzte und er seinen Abschied nehmen musste. Ich könnte jetzt behaupten, dieser Vorfall hätte ihn so traumatisiert, dass alles, was er nachher angestellt hat, nachvollziehbar und verzeihlich sei. Aber ich tue es nicht. Er war vielleicht ein wenig ruhiger, als er damals seinen Abschied von den Truppen nahm und nach Frankreich zurückkehrte, ein bisschen verschlossener, aber im Grunde noch immer der aufgeweckte Bengel unserer Kindheit.
Ich hatte inzwischen geheiratet und war zu Jacques nach Méru gezogen. Warum ich gerade ihn zum Mann genommen hatte, wurde mir erst nach und nach bewusst: Er war Hervé in vielen Dingen ähnlich. Kindisch und verspielt, wenn auch mit einer zwanghaft pedantischen Note. Eine seiner Schrullen war zum Beispiel eine kleine digitale Kamera, die er immer um den Hals trug und mit der er – je nach Lust und Laune – seinen Alltag filmte. Ob im Bus, im Supermarkt oder am Postamt, immer wieder hat er zwischendurch den Auslöser betätigt.
Oder diese Geige – die gefälschte Vuillaume: Er hat sie für einen Spottpreis auf dem Flohmarkt gekauft und dann – in penibelster Kleinarbeit – zu einer Art Sparbüchse umgebaut. Die Münzen, die man in die Schalllöcher geworfen hat, bekommt man wieder, wenn man den richtigen Code weiß: Man muss nur in einer ganz bestimmten Reihenfolge an den Wirbeln drehen. Dann klappt der Geigenhals nach oben, und der Inhalt fällt heraus …
Hervé und Jacques waren einander auf Anhieb sympathisch. Sie verbrachten lange Tage in der Werkstatt, wo mein Bruder meinem Mann bei der Arbeit zur Hand ging. Im Gegenzug half Jacques Hervé dabei, an seinem Motorrad herumzubasteln. Sie verlegten zum Beispiel den Gasgriff nach links, wie bei den amerikanischen Armeemodellen, die Harley-Davidson im Zweiten Weltkrieg produziert hat. Man sollte seinen Colt ja auch als Rechtshänder bei voller Fahrt abfeuern können …
Hervé wohnte damals in Paris; er blieb aber nicht selten über Nacht bei uns, wenn es am Abend spät geworden war. Er hatte keine Arbeit, sondern lebte – relativ bescheiden – vom gesparten Sold aus seiner Militärzeit. Dann, im Herbst 2010, verschaffte ich ihm einen Job. Das war mein erster großer Fehler.
Ich hatte mich schon vor drei Jahren als Übersetzerin bei der EU beworben und einen Rahmenvertrag als freie Mitarbeiterin erhalten. Neben einem in der Regel spärlichen Verdienst hatte das den Vorteil, dass sich alle Freiberufler auf einer alljährlich publizierten Liste wiederfinden, die auch gerne von Privatfirmen genutzt wird. So bekam ich immer wieder zusätzliche Aufträge: Produktverpackungen, Broschüren oder Website-Texte,
Weitere Kostenlose Bücher