Polivka hat einen Traum (German Edition)
Verzeihen Sie die frühe Störung … Leider bin ich gestern nicht dazu gekommen, aber heute werde ich sicher … Richtig, gegen Frankreich. Für uns Briten hochbrisant, das europäische Derby schlechthin … Natürlich, Till, ich weiß, es ist nur Fußball, und wir sind doch alle eine friedliebende europäische Familie. Ihr Österreicher überhaupt. Ihr seid so pazifistisch, dass ihr nicht einmal die Qualifikation geschafft habt.» Gallagher lacht kurz und heiser auf. «Verzeihen Sie, Till, ich wollte nicht … Ob ich die Zeitungen …? Nur überflogen … Keine Ahnung, ob es irgendetwas Neues … Ach, Sie auch nicht? Sehen Sie, unser kleiner Deal lässt uns ja nicht einmal die Zeit, mehr als den Wirtschafts- und den Sportteil durchzublättern. Soll mir recht sein, wenn es weiterhin so bleibt … Er ist zufrieden? Wunderbar, das freut mich, aber etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Es sind schließlich meine besten Leute … Also hören Sie, Till, warum ich anrufe: Ich hatte gerade sehr seltsame Gäste. Sagt Ihnen der Name Sergej Wolkow etwas? … Angeblich ein Oligarch aus Russland. Und die ungarische Turnerin Ildiko Horvat? … Nein, mir auch nicht. Diese Horvat, offenbar verehelichte Wolkowa, ist mir vor zehn Minuten ins Büro geschneit, mit ihrem früheren Masseur und … Bitte? … Was man eben so massiert, Sie wissen schon.» Ein anzügliches Lachen.
Polivka senkt schuldbewusst den Blick, fast so, als spiegle Gallaghers frivoler Einwurf seine eigenen Gedanken wider.
«Jedenfalls platzt sie herein, mit ihrem ziemlich stupiden Begleiter, und will einen meiner Männer engagieren. Ich weiß nicht, wie, aber auf einmal dreht sich das Gespräch um einen ganz bestimmten Mitarbeiter, den ich ihm … Genau. Ein etwas schwerhöriger Typ; war früher in Afghanistan … Lavoix … Nein, nein, sein Name ist nicht explizit genannt worden, nur plötzlich hat sich diese Horvat so auf ihn versteift, dass … Ja, das habe ich ihr auch gesagt … Total hysterisch. Sie ist durchgedreht, hat mir mit einem Rollkommando ihres Ehemanns gedroht und sich … Warum das ein Problem sein soll? Weil sie nach ihm gefragt hat … Ja, nach Omar … Till, Sie kennen mich, ich habe nichts gesagt, kein Wort. Ich hab die zwei hinausgeworfen, und im Grunde ist auch nichts geschehen … Erstens, weil ich so ein seltsames Gefühl bei dieser Sache habe, so, als hätten mir die beiden etwas vorgemacht. Und zweitens, weil es der Befehlskette entspricht. Wenn irgendetwas Ungewöhnliches passiert, vor allem, wenn jemand nach Ihnen oder Omar fragt, soll ich Sie anrufen … Genau … Das können Sie halten, wie Sie wollen, Till; ich verstehe, dass Sie ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit … Natürlich habe ich seine Privatnummer, aber es hat ausdrücklich geheißen … Ja, okay … Ich recherchiere das. Wenn dieser Wolkow wirklich existiert, dann … Gut, ich melde mich. Bis später, Till.»
14
«Erzählen Sie mir mehr von diesem Stranzer», sagt Sophie und steckt sich eine Zigarette an.
Sie sind ins Brüsseler Stadtzentrum spaziert, nur weg aus diesem Haus, nur weg von Gallagher, nur durchatmen, Kaffee trinken und das Geschehene besprechen. Unterwegs haben sie bei einem Herrenausstatter haltgemacht, um einen eleganten beigen Sommeranzug, zwei Hemden, drei Paar Socken und drei Boxershorts für Polivka zu kaufen. Seine weiße Krankenpflegerkluft hat er ganz einfach in der Umkleidekabine liegen lassen, anders als Sophies lavendelfarbenen Slip, den er dezent in eine Innentasche seiner neuen Jacke stopfte. Nicht, dass Polivka ein Fetischist wäre. Man trennt sich eben nicht so leicht von einem lieb gewordenen Kleidungsstück.
Als er aus der Kabine trat, betrachtete Sophie ihn mit erstaunten Blicken. «Eben noch Masseur, jetzt Oligarch», meinte sie anerkennend. Und tatsächlich: An der Kassa zeigte sich, dass Polivkas Kreditkarte ein weiteres Mal belastbar war. Als fünfzigjähriger Beamter noch im Elternhaus zu wohnen, hatte hin und wieder seine Vorteile.
Sie sitzen im Gastgarten des Delirium Tremens , eines Cafés und Bierlokals in der engen Impasse de la Fidelité, was laut Sophie auf Deutsch nichts anderes als Sackgasse der Treue heißt. Schräg vis-à-vis hockt eine nackte Bronzefigur in einer Nische: Jeanneken Pis , das weibliche Pendant zum pinkelnden Brüsseler Wahrzeichen Manneken Pis .
«Tilman Stranzer», sagt Polivka jetzt, «ist ein Fall für sich. Genauso wie das Marchfeld, diese trostlose Gegend im Osten von Wien, aus der er stammt.
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