PolyPlay
Deutschland‹, die man heute in jedem Buchladen kaufen kann, und die Westler skandieren: Modrow-Müller-Lohmann, macht bei uns das Licht an! Bin ich dafür im antifaschistischen Widerstand gewesen? Habe ich mich dafür von der Gestapo foltern lassen als Sechzehnjähriger? Ganz bestimmt nicht, Genosse Oberleutnant, ganz bestimmt nicht!«
Kramer sah den Feuereifer des Stalinistengreises, seinen ausgestreckten Zeigefinger, seinen puterroten Kopf, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Er versuchte es mit Autorität.
»Genosse Doernberger«, pfiff er den alten Mann in scharfem Tonfall an, »wollen Sie unserer Staatsführung etwa Verrat vorwerfen? Habe ich das richtig verstanden?«
»Und ob ich das will!«, keifte Doernberger zurück.
Bei einem raschen Seitenblick durch die Plexiplastscheiben stellte Kramer fest, dass Natschinsky und Schumacher besorgt herübersahen.
»Schmieriger Verrat! Und was haben wir heute? Einen klaren Klassenstandpunkt? Eine entschlossene Politik zum Aufbau des Sozialismus? Nein! ›Sozialistischer Pluralismus‹! So lautet die Parole. ›Sozialistischer Pluralismus‹! Dass ich nicht lache! Der Sozialismus ist nicht pluralistisch! Das ist nichts weiter als sozialdemokratisches Wortgeklingel. Und im Kern Verrat an der Sache der Arbeiterklasse!«
Kramer schwoll der Kamm. Er kam sich vor wie in einer Zeitmaschine, die auf das falsche Datum eingestellt war, wie in einer Parallelwelt, in der er gezwungen wurde, die in seinen frühen Jahren bis zum Erbrechen mitangehörten Diskussionen und Phrasen noch einmal durchzukauen. Er hatte sich gestern schon die andere Fraktion der sozialistischen Sittenwächter zugemutet, jetzt hatte er für diesen tyrannischen Greis keine Geduld mehr.
»Schluss jetzt!«, brüllte er, und das brachte den letzten Mohikaner des Stalinismus zum Schweigen. »Ihre Volksreden interessieren hier keinen! Haben Sie etwas zum Mordfall Abusch beizutragen, ja oder nein?«
Doernberger fing sich schnell. »Und ob ich etwas dazu beizutragen habe! Nämlich meine eigene Meinung! Und die sage ich Ihnen ins Gesicht, Sie Oberleutnant, Sie! An diesem Verbrechen ist nur eines schuld! Dass unsere Jugend nämlich keine klare Orientierung mehr in der Gesellschaft hat! Und woher soll sie eine klare Orientierung haben, wenn nicht einmal die Staatsführung eine klare Orientierung hat? Kann sie eben nicht. Unter dem Genossen Honecker hätte es so etwas nicht gegeben!«
Gleich dreh ich durch, dachte Kramer. Stattdessen öffnete er die Tür des Hasenstalls und sagte abrupt: »Gehen Sie. Sofort. Ich kann Sie und Ihr Geschwätz nicht mehr ertragen. Raus.«
Steif, erhobenen Hauptes, schritt der Greis an Kramer vorbei. Vor der Tür des Hasenstalls drehte er sich noch einmal um. »Sie hören noch von mir! Ich habe immer noch Freunde, die –«
»Raus!«, schrie Kramer. »Aber dalli! Sonst mache ich Ihnen Beine!«
Doernberger verstand, dass es Kramer ernst war, und machte sich davon.
Noch am nächsten Morgen war Kramer schockiert von dieser Begegnung. Er und Pasulke tranken einen Verlegenheitskaffee in Kramers Büro und brüteten trübe über dem Ereignis, bis Pasulke schließlich den Finger auf die entscheidende Wunde legte.
»Und das Allerschlimmste ist: Der Peinsack hat an ein paar schmuddeligen Ecken auch noch Recht. Was wollten die Wessis von uns? Müller-Lohmann, sonst nix. Das kann man drehen und wenden, wie man will: Die, die am lautesten für den Beitritt waren, waren vorher die übelsten Kommunistenfresser. Manchmal reib ich mir ja heute noch die Augen, wer jetzt in ›Sozialistischem Pluralismus‹ macht und früher beim Axel-Springer-Verlag war. Wo Doernberger Recht hat, hat er Recht.«
Das hatte Kramer an seinem Kollegen noch immer geschätzt: seinen Opfermut. Er war oft genug bereit, das zu sagen, was andere nur dachten, und nahm dann auch die Schuld auf sich, es als Erster gesagt zu haben. Der Knoten war durchschlagen, der schreckliche Veteran mehr oder weniger abgehakt. Sie tranken ihre Becher aus und wollten sich an die Arbeit machen, als Lobedanz sich über das Terminal meldete. Ein Fenster ging über dem Abusch-Fall auf, und mittendrin saß das Gesicht seines Chefs. Natürlich wusste er, dass Kramer da war. Kramers Terminal hatte ja genau so eine Kamera wie seins. Er hatte wahrscheinlich sogar das Gespräch über Doernberger mitbekommen. Kramer winkte Pasulke zu sich an den Schreibtisch zurück.
»Also, die Eildurchsuchung, Rüdiger. Hallo, Jochen. Ich musste ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher