PolyPlay
schien es nicht auf eine neuerliche Besichtigung von Michael Abuschs Überresten abgesehen zu haben. Kramer musste mit dem Gerichtsmediziner nicht in Konkurrenz treten oder ihm zeigen, dass er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Das fand er angenehm.
»Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen«, sagte Dr. Schwernik und verließ ohne weiteren Kommentar sein Büro.
Kramer stand verblüfft da und wusste nicht, was er machen sollte, bis Schwernik noch einmal seinen Kopf durch den Türrahmen steckte und sagte: »Kommen Sie bitte.«
Das Institut lag still, außer ihnen schien kaum jemand unterwegs zu sein. Nach ein paar Treppen abwärts öffnete Schwernik eine unscheinbare Tür zu einem genauso unscheinbaren Innenhof. Sie überquerten diesen Hof und standen vor einem Wellblechgatter, das mit einem schweren Riegel und mehreren Schlössern gesichert war. Zum Schutz gegen Kletterer war überall reichlich bösartiger Stacheldraht verteilt. Kramers Magen knotete sich zusammen, und ihm wurde seltsam zumute.
Schwernik öffnete ein Schloss nach dem anderen. Bevor er die Klinke der Tür drückte, die er gerade so umständlich entsperrt hatte, sagte er: »Was ich Ihnen jetzt zeige, ist nicht sehr angenehm. Sie können jederzeit abbrechen.«
Kramer nickte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwartete.
Auf den ersten Blick hätte man die Anlage für ein kleines Wäldchen oder einen interessant angelegten Park halten können, durch den ein sauberer Kiespfad führte, damit sich Spaziergänger an den Pflanzen und der Ruhe erfreuen konnten. Ruhig war es hier tatsächlich, aber was diesen Ort auf Anhieb von einem Naherholungsgebiet unterschied, war der Geruch. Kramer wurde sich der Tatsache bewusst, dass er diesen Geruch schon wahrgenommen hatte, als sie vor der Absperrung gestanden waren. Aber hier war er deutlich stärker. Gewandt öffnete Dr. Schwernik zwei Beutel mit Erfrischungstüchern, die nach Kölnisch Wasser rochen. Kramer hatte diese Dinger nie leiden können, aber jetzt nahm er dankbar eines an. Gehorsam trottete er hinter Schwernik her, der ihn in das »Wäldchen« hineinführte. An einem kleinen nummerierten Schild, das im Boden stak, blieb er stehen. Gleich neben dem Schild befand sich ein Erdhaufen, anscheinend stark von Wurzelwerk und Blättern durchsetzt, und aus einer Mulde inmitten des Erdhaufens ragte etwas heraus, was Kramer zunächst für ein Stück helles Holz hielt.
Bei näherer Betrachtung stellte es sich als ein menschliches Schulterblatt heraus. Teile des Skeletts, zu dem das Schulterblatt offenbar gehörte, waren ebenfalls zu sehen, so zum Beispiel eine Schulter, eine Rückenansicht des Brustkorbs und des Rückgrats, der Kopf hingegen fehlte. Auf dem Schild stand: Nr. 4. Schweigend wandte sich Dr. Schwernik ab und folgte dem Pfad weiter. Bei einem zweiten nummerierten Schild blieb er erneut stehen. Hier lag eine halb verweste menschliche Leiche unter einer dünnen Schicht von Blättern, die offenbar noch aus dem letzten Herbst stammten, denn sie waren alle braun und trocken. Die Farbe der Leiche – oder des vergammelnden Fleischs – ging auch ins Bräunliche. Der Geruch war unbeschreiblich. Bei der dritten Station hatte Kramer endgültig begriffen: Das hier war ein Todesgarten, in dem das Institut für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität die Verwesung studierte, in all ihren Stadien, unter verschiedenen Bedingungen. Die dritte Leiche war entschieden die unheimlichste. Wie zum Ausgehen angezogen, in Jackett, Hemd und guter Hose, lag der Mann bauchunter auf einem flachen Sandhügel, gerade so, als schliefe er. Er schien noch nicht lange tot zu sein. Die Haut wirkte normal.
»Ich zeige Ihnen das hier nicht, um Sie zu schockieren oder zu beeindrucken«, sagte Dr. Schwernik.
»Ach, gut«, sagte Kramer. »Es kam mir schon beinahe so vor.«
Es hörte sich nicht halb so schlagfertig an, wie Kramer gehofft hatte. Er stellte fest, dass es schwierig war, mit einem Kölnisch-Wasser-Erfrischungstuch vor dem Mund witzig zu sein.
»Ich erzähle Ihnen sicher nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass die Gewaltverbrechen in unserem Land in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Diese Einrichtung hier ist relativ neu, sie ist nach amerikanischen Vorbildern aus der Vor-Wende-Zeit gestaltet. Die Amerikaner haben solche Anlagen bereits in den frühen Siebzigern eingerichtet. Sie wollten damit vor allem realistischere Bedingungen für die Todeszeitschätzung schaffen. Man könnte es als experimentelle
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