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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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langweilig. Ein Gesicht, das die Aktuelle Kamera so lange abgefilmt hatte, bis es beinahe zum Wohnzimmerinventar gehörte.
    Fischer der Jüngere, Joseph »Joschka«, der gleich 1990 auf den Älteren gefolgt war, brachte Kramer hingegen oft genug zur Raserei. Er war einer der wenigen Westlinken, die in der neuen DDR Karriere gemacht hatten, ein Machtpolitiker reinsten Wassers – gleichzeitig unterwürfig und gierig, eitel darauf bedacht, sich in Szene zu setzen, wo es nur ging. Die Tatsache, dass er 1988 unter der westdeutschen Militärjunta ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen hatte, trug er vor sich her wie eine Reliquie seiner selbst. Sein Standardgesichtsausdruck, der wohl ein Gemisch aus Entschlossenheit und Nachdenklichkeit darstellen sollte, brachte den Begriff »Charaktermaske« auf den Punkt; sein pseudobesonnenes Gefasel, stets um die passende Phrase bemüht, fand Kramer zum Speien.
    Im Augenblick erklärte er einer Riege versteinerter chinesischer Militärs die Vorzüge der vertieften internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Kramer wusste: Er wollte den Chinesen Müller-Lohmann-Energie andrehen und sah das chinesische Militär als den geeignetsten Hebel an. Die Chinesen würden höflich ablehnen, weil sie nicht von der DDR abhängig werden wollten. Sie würden im Traum nicht daran denken, den Deutschen die Tür nach Asien zu öffnen. Die relative Isolation des asiatischen Wirtschaftsraumes gefiel den Chinesen so, wie sie war; sie würden Fischer mit seiner ganzen Entourage freundlich lächelnd und mit den besten Wünschen wieder in sein Flugzeug setzen und fertig. Vielleicht würde der chinesische Außenminister nächstes Jahr zum Gegenbesuch kommen. Vielleicht auch nicht. Eins war sicher: Was immer da auf dem Bildschirm und hinter dem Bildschirm geschah oder nicht geschah, Fischer war der kommende Mann, der Kronprinz, der Staatsratsvorsitzende nach Modrow. Kramer fand diese Aussicht deprimierend.
    Er nahm gerade die Fernbedienung in die Hand, um abzuschalten, da ging die Haustür. Es gab ein wenig Geraschel im Eingangsflur, dann kam Anette herein. Ein wenig abgekämpft und müde sah sie aus, und Kramer entschied in dieser Sekunde: Nichts von Michael Abusch heute Abend.
    Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann schaute sie zum Fernseher und sagte: »Au weia.«
    Sie setzte sich auf die Lehne von Kramers Sessel und legte einen Arm um seine Schultern. »Na, Genosse Oberleutnant. Bereit zum Abendessen?«
    »Danke, Genossin Ingenieurin. Hab schon.«
    Er sah ihr lächelnd in die Augen. Da waren ein paar Fältchen, die er noch nicht kannte. Wirst auch älter, dachte er, und gleich danach: Macht nix.
    »Du«, fragte er, »wollen wir nachher unsere internationalen Beziehungen ein wenig ausbauen und vertiefen?«
    Sie lachte. »Nur wenn du dir deinen Schnäuzer wegmachst. Det piekt.«
    Nach dieser Ouvertüre ahnte Kramer, was die Uhr geschlagen hatte.
    »Im Ernst, Rüdiger. Ich muss noch was arbeiten.«
    Ah, dachte er, Rüdiger. Wenn sie rüdigerte, dann war es offiziell. Keine Vertiefung der Beziehungen. Kramer war enttäuscht.
    Anette ging in die Küche und werkelte dort herum. Die Aktuelle Kamera konnte sich von Herrn Fischers Besuch in Peking immer noch nicht lösen. Jetzt versuchte er sich sogar in Chinesisch. Den soll doch der Weltgeist holen, dachte Kramer.
    Szenenwechsel. Conrad Schumann war tot. Conrad Schuhmann? Der Mauerspringer. Der Bereitschaftspolizist von 1961, der dem Westfotografen mitten in die Linse gesprungen war, über den Stacheldraht hinweg. Er hatte sich in seinem Haus in Kipfelberg (Bayern) umgebracht. Rätselraten über das Motiv für den Selbstmord – nach der Wiedervereinigung war ein Ermittlungsverfahren wg. Fahnenflucht eingeleitet, aber schnell wieder niedergeschlagen worden. Die Aktuelle Kamera zeigte das Bild von 1961, dann einen Trauerzug im Regen.
    Dann endlich Sport: In einem Nachholspiel der Ersten Liga hatte Lok Leipzig Dynamo Dortmund mit 1:0 besiegt; der Zusammenschnitt zeigte ein wüstes Gebolze im Nieselregen. Rudi Dutschke, immer noch der beliebteste Sportreporter der DDR, kommentierte die gezeigten Holzhacker-Aktionen. Wenn es hoch herging, konnte er wie kein anderer die Zuschauer mit seiner heiser belegten Stimme emotionalisieren, aber heute Abend hatte er wenig Grund dazu. Das Aufregendste waren zwei rote Karten, eine für Leipzig, eine für Dortmund.
    Katharina Witt war jetzt endgültig Cheftrainerin des

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