PolyPlay
Getränke bringen, und er wollte ihr dann unbedingt dabei zusehen. Der Zug glitt wie von Engeln getragen aus dem Bahnhof hinaus. Fahrzeit Berlin-Köln: 2 Stunden, 45 Minuten.
Die Fahrt wurde dann doch nicht so angenehm wie erhofft. Schon auf der Höhe von Braunschweig hatte sich ein Mitreisender so zugesoffen, dass er zu randalieren begann. Als die hübsche Zugbegleiterin ihm nicht noch ein Bier bringen wollte, hielt er seine Stunde für gekommen. Er stand im fahrenden Zug auf, stellte sich in den Mittelgang und rief ihr hinterher:
»Ick bin der Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der … Bezirksparteiorganisation Berlin der … Sozialistischen Einheitspartei … Deutschlands! Und wenn ick sahre, wenn ICK sahre, ick will 'n BIER, dann krieje ick 'n BIER! Ham'se mir verstandn, Frollein? Hä!?«
Das »Frollein« war schon weit außer Reichweite und dachte wohl ohnehin nicht daran, den Bedürfnissen des Genossen Sekretärs für Volksbildung undsoweiter zu entsprechen. Als der begriff, dass er auf sein Bier würde verzichten müssen, machte er sich anders lustig. Er sang:
»Die Partei, die Partei, sie hat immer Recht
und Genossen, es bleibe dabei,
wer da kämpft für das Recht, der hat immer Recht
gegen Lüge und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht,
wer die Menschen verteidigt, hat immer Recht
So, aus Leninschem Geist, wächst, von Stalin geschweißt,
die Partei, die Partei, die Partei!«
Kramer glaubte, sich zu verhören. Aber nein, es war alles wahr und wirklich. »Das Lied der Partei«. Niemand regte sich. Niemand fuhr dem Sekretär in die Parade. Er amüsierte sich königlich, lief mit erhobenem Zeigefinger auf dem Mittelgang hin und her und rezitierte immer noch einmal zentrale Passagen des Liedes, das er soeben zum Besten gegeben hatte. Damit andere auch was davon hatten, sprach er sie direkt an, um ihre Meinung zu seiner Show zu erfahren:
» … die Partei, sie hat immer Recht, oder?«, hörte Kramer ihn schwadronieren. »Wat meenste, Dickerchen, is det ooch wahr? Ick denk ja schon, aber wat so 'n Penner wie du is, det sieht mir janz nach kleenem Konterrevolutionär aus. Hihi!«
An Kramers und Pasulkes Sitzbank angekommen, war seine pädagogische Energie noch immer nicht verpufft. Kramer starrte in seine Zeitung und bebte vor Wut. Pasulke tat so, als würde ihn die vorbeirauschende Landschaft mächtig interessieren. Die Fahne des Sekretärs war toxisch, denn er hatte nicht nur gesoffen, sondern auch Zwiebeln gegessen. Außerdem schwitzte er wie ein Schwein.
»Na, ihr zwee Süßen? Ihr kleenen Schwuchteln, ihr? Wo wollt ihr'n hin? Seid ihr ooch schon alt jenuch für Bahnfahrn? Oder braucht ihr noch wat von der Bahnhofsmission?«
Kramer blätterte seine Zeitung um. Pasulke schaute weiter nach draußen. Der Betrunkene schwankte noch ein Weile neben ihnen hin und her, dann sagte er »Olle Spielverderber« und suchte sich neue Opfer. So ging das eine gute halbe Stunde. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz, wo er fröhlich ein Liedchen nach dem andern trällerte; allerdings beschränkten sich seine Darbietungen jetzt nicht mehr nur auf sozialistisches Liedgut, sondern er schob hin und wieder auch einen unpolitischen Schlager ein: »La Paloma« zum Beispiel, oder »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins«, oder »Es gibt kein Bier auf Hawaii«. In Kassel holten ihn dann zwei Transportpolizisten aus dem Zug. Kramer beobachtete die Genossen bei der Arbeit und staunte: Sie gaben sich äußerst milde. Sie wirkten überhaupt nicht wie seine Kollegen in Berlin, sondern eher wie die Polizisten eines besetzten Landes.
»Genosse Bezirkssekretär«, sagte der eine, »kommen Sie bitte mit. Sie sind betrunken und stören die anderen Fahrgäste. Wir müssen Sie mitnehmen.«
»ICK?«, schrie der Sekretär. »ICK, besoffen? Ick bin der Sekretär für Wissenschaft und Volksbildung … und Kultur … und ick bin nich besoffn! Ick lass mir doch von euch Scheißwessis nich beleidijen. Finger weg! Loslassen!«
Die Trapos zogen den Sekretär so sanft wie möglich aus dem Sitz, und als er merkte, dass sie unnachgiebig blieben, setzte er sich nicht mehr zur Wehr, sondern maulte nur noch herum.
Schade, dachte Kramer, der hätte eins auf die Fresse gebraucht. Den ganzen Rest der Fahrt war er schlecht gelaunt. Es half ihm auch nicht, als er den Grund dafür erkannte: Er schämte sich nämlich für den Genossen Bezirkssekretär.
Am Bahnhof in Köln wurden sie von
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