Pompeji
ich dir sagen. Er kannte dieses Wasser besser als jeder andere. Er hätte das hier kommen sehen.«
»Vielleicht hat er genau das getan und ist deshalb fortgelaufen.«
»Exomnius war kein Feigling. Er ist nirgendwohin gelaufen.«
»Aber wo steckt er dann?«
»Das habe ich dir schon hundertmal gesagt, hübscher Knabe: Ich weiß es nicht.«
Der Aufseher lehnte sich zur Seite, löste das Boot von dem Ring, an dem es vertäut war, und stieß es von den Stufen ab; dann ließ er sich mit dem Gesicht zu Attilius nieder und ergriff die Riemen. Im Fackellicht war sein Gesicht dunkel, bösartig, älter als seine vierzig Jahre. Er hatte eine Frau und eine Horde Kinder in einer engen Wohnung, die in einer Straße gegenüber dem Reservoir lag. Attilius fragte sich, weshalb Corax ihn so hasste. Lag es lediglich daran, dass er gern selbst Aquarius geworden wäre und wegen der Ankunft eines jüngeren Mannes aus Rom verbittert war? Oder steckte etwas anderes dahinter?
Er wies Corax an, sie ins Zentrum der Piscina zu rudern, und als sie ihr Ziel erreicht hatten, übergab er ihm die Fackel, entkorkte die Flasche und krempelte die Ärmel seiner Tunika auf. Wie oft hatte er seinen Vater das tun sehen, im unterirdischen Reservoir der Claudia und des Anio Novus auf dem Esquilin? Der alte Mann hatte ihm gezeigt, dass jede der großen Wasserleitungen ihren eigenen Geschmack hatte, so deutlich voneinander verschieden wie Weinsorten. Die Aqua Marcia schmeckte am süßesten, weil sie von drei klaren Quellen des Flusses Anio gespeist wurde; die Aqua Alsietina war am widerwärtigsten, eine kiesige Brühe aus einem See, die nur zum Bewässern von Gärten taugte; weich und lauwarm war die Aqua Julia; und so weiter. Ein guter Aquarius, hatte sein Vater gesagt, sollte mehr kennen als nur die soliden Gesetze der Architektur und der Hydraulik – er sollte einen Geschmack, eine Nase, ein Gefühl für Wasser haben und für das Gestein und die Böden, die es auf seinem Weg an die Oberfläche durchlaufen hatte. Von seinen Fähigkeiten konnten Menschenleben abhängen.
Ein Bild seines Vaters schoss ihm durch den Kopf. Noch bevor er fünfzig war, hatte ihn das Blei umgebracht, mit dem er zeit seines Lebens gearbeitet hatte, und Attilius, ein halbes Kind, war unversehens zum Oberhaupt der Familie geworden. Zum Schluss war nicht mehr viel von seinem Vater übrig gewesen. Nur eine dünne Hülle aus weißer, über vorstehende Knochen gespannter Haut.
Sein Vater hätte gewusst, was jetzt zu tun war.
Attilius hielt die Flasche so, dass ihr Hals ins Wasser hineinragte. Dann beugte er sich vor und tauchte sie so tief wie möglich ein, drehte sie langsam unter Wasser und ließ die Luft in einem Strom von Blasen entweichen. Als sie voll war, verkorkte er sie und zog sie wieder heraus.
Zurück auf seinem Platz im Boot, öffnete er die Flasche noch einmal und bewegte sie unter seiner Nase hin und her. Er nahm einen Mund voll, gurgelte und schluckte. Bitter, aber trinkbar, gerade noch. Er reichte sie Corax, der die Flasche gegen die Fackel tauschte und das ganze Wasser auf einen Zug trank. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Es geht«, sagte er, »wenn man es mit genügend Wein vermischt.«
Das Boot stieß gegen einen Pfeiler, und Attilius bemerkte, wie weit die Linie zwischen dem trockenen und dem feuchten Beton hochgewandert war – scharf abgesetzt, verlief sie schon jetzt einen Fußbreit über der Wasseroberfläche. Das Reservoir leerte sich schneller, als die Augusta es nachfüllen konnte.
Wieder Panik. Kämpfe dagegen an.
»Welches Fassungsvermögen hat die Piscina?«
»Zweihundertachtzig Quinariae.«
Attilius hob die Fackel in Richtung des Daches, das rund fünfzehn Fuß über ihnen in den Schatten verschwand. Das bedeutete, dass das Wasser ungefähr fünfunddreißig Fuß tief und das Reservoir zu zwei Dritteln gefüllt war. Angenommen, es fasste noch zweihundert Quinariae. In Rom gingen sie davon aus, dass eine Quinaria ungefähr den täglichen Bedarf von zweihundert Menschen deckte. Zum Kriegshafen von Misenum gehörten zehntausend Menschen; dazu kamen weitere zehntausend Zivilisten.
Die Rechnung war einfach genug.
Sie hatten Wasser für zwei Tage – vorausgesetzt, sie konnten die Versorgung auf vielleicht eine Stunde am Morgen und eine weitere am Abend beschränken. Und außerdem vorausgesetzt, dass der Schwefelgehalt auf dem Grund der Piscina ebenso gering war wie an der Oberfläche. Wenn Schwefel jedoch auf die Temperatur
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