Pompeji
hinein.
Nocte concubia
[22.07 Uhr]
»Viele Beobachter haben sich über die Tendenz von Vulkanen geäußert, bei Vollmond auszubrechen oder ihren Ausbruch zu verstärken, weil dann die durch die Gezeiten bedingten Spannungen in der Kruste am größten sind.«
Volcanology
Ampliatus hatte sich nie viel aus den Vulcanalia gemacht. Das Fest markierte den Zeitpunkt im Kalender, an dem die Nächte spürbar früher hereinbrachen und die Vormittage bei Kerzenlicht begannen: das Ende der Verheißungen des Sommers und den Anfang des langen, trübseligen Abgleitens in den Winter. Und die Zeremonie selbst war widerwärtig. Vulkan hauste in einer Höhle unter einem Berg und überzog die Erde mit verheerendem Feuer. Alle Geschöpfe hatten Angst vor ihm, nur die Fische nicht, und deshalb musste er, nach dem Prinzip, dass Götter – wie Menschen – am meisten begehren, was für sie unerreichbar ist, durch die Opferung von Fischen besänftigt werden, die man lebend auf einen brennenden Scheiterhaufen warf.
Nicht, dass Ampliatus überhaupt keine religiösen Gefühle hatte. Er schaute immer gern zu, wenn ein wohlgeformtes Tier geopfert wurde – zum Beispiel ein Stier, der gelassen auf den Altar zutrottete, wo er den Priester einen Moment lang verwirrt anstarrte; dann der unerwartete, betäubende Schlag mit dem Hammer des Gehilfen und das Aufblitzen des Messers, mit dem ihm die Kehle durchgeschnitten wurde; die Art, wie er niederstürzte, so steif wie ein Tisch, mit ausgestreckten Beinen; die Lachen von rotem, auf der Erde gerinnendem Blut; und die aus seinem Bauch hervorquellenden gelben Eingeweide, die von den Haruspices begutachtet wurden. Aber zu sehen, wie hunderte kleiner Fische von abergläubischen Leuten, die an dem heiligen Feuer vorbeizogen, in die Flammen geworfen wurden, zu beobachten, wie die silbrigen Leiber sich in der Hitze wanden und hochsprangen – daran konnte er nichts Edles finden.
In diesem Jahr geriet das Fest besonders unschön wegen der Rekordmenge von Menschen, die ein Opfer darbringen wollten. Die endlose Dürre, das Versiegen der Quellen und das Austrocknen von Brunnen, die Erdbeben, die Gespenster, die man auf dem Berg gehört und gesehen hatte: Das alles galt als Werk des Vulkan, und in der Stadt herrschte viel Furcht. Ampliatus konnte sie in den geröteten, schwitzenden Gesichtern der Leute sehen, die am Rand des Forums herumschlurften und ins Feuer starrten. Die Angst in der Luft war fast greifbar.
Er hatte keinen sonderlich guten Platz. Wie es die Tradition verlangte, standen die Beherrscher der Stadt auf den Stufen des Jupiter-Tempels – die Magistrate und die Priester in der ersten Reihe, die Angehörigen des Ordo, darunter sein eigener Sohn, gleich dahinter, während Ampliatus als ehemaliger Sklave und ohne offiziellen Rang durch das Protokoll in den Hintergrund verbannt war. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Im Gegenteil. Er genoss die Tatsache, dass Macht, wahre Macht, am besten immer im Verborgenen blühte: eine unsichtbare Gewalt, die den Leuten diese Zeremonien zugestand und dabei ihre Teilnehmer ständig manipulierte, als wären sie Marionetten. Außerdem, und das war das Beste daran, wussten die meisten Leute, dass in Wirklichkeit er, dieser Mann, der als Dritter in der zehnten Reihe stand, die Stadt regierte. Popidius und Cuspius, Holconius und Brittius – sie wussten es, und er bildete sich ein, dass sie selbst jetzt Unbehagen verspürten, wenn die Menge ihnen applaudierte. Und fast alle in der Menge wussten es auch und begegneten ihm demzufolge mit umso mehr Respekt. Er konnte sich vorstellen, wie sie nach seinem Gesicht suchten, sich anstießen und auf ihn zeigten.
»Das ist Ampliatus«, hörte er sie in Gedanken sagen, »der die Stadt wieder aufgebaut hat, als die anderen davonrannten! Vivat Ampliatus! Vivat Ampliatus! Vivat Ampliatus!«
Er ging vor dem Ende.
Wieder entschloss er sich, zu Fuß zu gehen, anstatt seine Sänfte zu benutzen. Er stieg die Tempelstufen zwischen den Zuschauerreihen hinab – ein Nicken hier, das leichte Drücken eines Ellbogens dort – und ging an der im Schatten liegenden Seite des Gebäudes entlang, unter dem Triumphbogen des Tiberius hindurch und auf die leere Straße. Seine Sklaven trugen seine Sänfte hinter ihm her und fungierten als Leibwächter, aber Pompeji nach Einbruch der Dunkelheit machte ihm keine Angst. Er kannte jeden Stein der Stadt, jeden Buckel und jede Vertiefung auf den Straßen, jede Häuserfront, jede
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