Poor Economics
Gelegenheitsarbeiter auf zum Teil sehr viel weniger Arbeitstage pro Jahr als angestellte Arbeiter. Eine Untersuchung im indischen Bundesstaat Gujarat fand heraus, dass Gelegenheitsarbeiter im Schnitt 254 Tage pro Jahr beschäftigt sind (verglichen mit 354 Tagen bei angestellten Arbeitern und 338 Tagen bei Selbstständigen), im unteren Drittel der Statistik waren es nur 137 Tage. 1
Großen landwirtschaftlichen Katastrophen wie der Dürre in Bangladesch im Jahr 1974 (als die Kaufkraft der Löhne um 50 Prozent sank und nach manchen Schätzungen bis zu einer Million Menschen starben) 2 oder der Nahrungsmittelknappheit in Afrika (zum Beispiel während der Dürre in Niger 2005/2006) schenken die Medien naturgemäß besondere Aufmerksamkeit, doch selbst in »normalen« Jahren schwanken die Einnahmen aus der Landwirtschaft beträchtlich. In einem normalen Jahr können die in der Landwirtschaft gezahlten Löhne in Bangladesch bis 18 Prozent unter oder über dem Durchschnitt liegen. 3 Und je ärmer das Land, desto größer die Schwankungen. In Indien ist die Schwankungsbreite der in der Landwirtschaft gezahlten Löhne beispielsweise 21-mal größer als in den Vereinigten Staaten. 4 Kein Wunder: Amerikanische Bauern sind versichert, sie erhalten Subventionen und sie profitieren von den standardmäßigen Sozialversicherungsprogrammen. Sie brauchen ihre Landarbeiter nicht zu feuern, wenn die Ernte schlecht ausfällt.
Als wären die Launen des Wetters nicht schlimm genug, schwanken auch die Preise für landwirtschaftliche Produkte ganz
erheblich. Zwischen 2005 und 2008 kam es zu einem nie dagewesenen Anstieg der Lebensmittelpreise. Während der globalen Finanzkrise brachen sie zwar ein, aber nur um in den letzten zwei Jahren wieder auf das Vorkrisenniveau anzusteigen. Hohe Nahrungsmittelpreise sollten im Prinzip für die Produzenten (die Armen auf dem Land) günstig und für die Verbraucher (die Armen in der Stadt) ungünstig sein. Doch im Sommer 2008, einem Jahr, in dem die Preise für Dünger und Lebensmittel gleichermaßen hoch waren, hatte eigentlich jeder unserer Gesprächspartner in Indien und Indonesien das Gefühl, den Schwarzen Peter gezogen zu haben: Die Bauern sagten, ihre Ausgaben seien stärker gestiegen als die Einnahmen, die Arbeiter klagten, dass sie keine Arbeit fänden, weil die Bauern sparten, und gleichzeitig wussten die Städter nicht, wie sie ihre Lebensmittel bezahlen sollten. Das Problem waren nicht nur die Preise, sondern auch die Ungewissheit. Bauern etwa, die für teures Geld Dünger kaufen mussten, wussten nicht, ob sie bei der Ernte immer noch hohe Preise für ihre Produkte erzielen würden.
Das Risiko beschränkt sich für die Armen nicht auf Einkommen oder Essen; ihre Gesundheit, die wir in einem der vorangegangenen Kapitel diskutiert haben, ist eine weitere Quelle der Unsicherheit. Dazu gesellen sich politisch motivierte Gewalt, Kriminalität (wie im Fall von Ibu Tinas Tochter) und Korruption.
Im Alltag der Armen gibt es so viele Risiken, dass sie manche Ereignisse, die wir im Westen als katastrophal empfinden, kaum wahrzunehmen scheinen. Im Februar 2009 warnte Weltbankpräsident Robert Zoellick die Staatenlenker der Welt: »Die globale ökonomische Krise [ausgelöst durch den Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008] droht in vielen Entwicklungsländern zu einer humanitären Krise zu werden, wenn diese keine gezielten Maßnahmen ergreifen, um die Schwachen in ihrer Gesellschaft zu schützen. Während sich alles auf Bankenrettung und Konjunkturförderprogramme konzentriert, sollten wir nicht vergessen, dass die Armen in den Entwicklungsländern viel gefährdeter
sind, wenn deren Wirtschaften ins Taumeln geraten.« 5 Weiter heißt es, mit einem Sinken der globalen Nachfrage verlören die Armen die Märkte für ihre landwirtschaftlichen Produkte sowie ihre Gelegenheitsjobs auf Baustellen und ihre Anstellung in Fabriken. Die Budgets für Schulen, Krankenhäuser und staatliche Hilfsprogramme würden unter dem gleichzeitigen Druck von sinkenden Steuereinnahmen und einem Kollaps internationaler Hilfen zusammengestrichen werden.
Mit Somini Sengupta, seinerzeit Indienkorrespondentin der New York Times, reisten wir im Januar 2009 nach Malda, einem ländlichen Bezirk im Bundesstaat Westbengalen. Sengupta, die in Kalifornien aufgewachsen ist, aber perfekt Bengali spricht, wollte eine Geschichte darüber schreiben, welche Auswirkungen die globale Krise auf die Armen hat. Sie hatte gehört,
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