Poor Economics
erkrankt ist (wofür er in der Regel nichts kann), keines erhält. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler glauben, die informellen Absicherungen beruhten darauf, dass wir hoffen, für unsere jetzt gewährte Unterstützung irgendwann in der Zukunft selbst Hilfe zu erhalten. Doch vielleicht ist das nicht alles. Möglicherweise helfen wir unseren Nachbarn in Extremsituationen auch dann, wenn wir nicht davon ausgehen, einmal in eine ähnliche Lage zu geraten, zum Beispiel weil es einfach unmoralisch wäre, es nicht zu tun. Betsy Hartman und Jim Boyce haben ein Buch über das Leben im ländlichen Bangladesch geschrieben. 17 Es spielt Mitte der siebziger Jahre und beschreibt zwei Nachbarfamilien, eine Hindu- und eine Moslemfamilie, die sich nicht besonders nahestanden. Als die Hindufamilie ihren Hauptverdiener verlor, musste sie hungern. In ihrer Verzweiflung kroch die Hindufrau durch den Zaun in den Garten der muslimischen Nachbarn und stahl dort immer wieder einmal etwas Gemüse.
Hartman entdeckte, dass diese das sehr wohl wussten, aber beschlossen hatten, ein Auge zuzudrücken. »Ich weiß, dass sie eigentlich ein guter Mensch ist«, sagte der Mann, »und wenn ich in ihrer Lage wäre, würde ich vermutlich auch stehlen. Bei solchen Kleinigkeiten rege ich mich nicht auf. Ich denke ›Die Person, die das genommen hat, ist hungriger als ich‹.«
Die Tatsache, dass Menschen auch helfend eingreifen, wenn sie sich moralisch verpflichtet fühlen und nicht nur weil sie eine entsprechende Gegenleistung in der Zukunft erwarten, erklärt vielleicht, warum informelle Netzwerke nicht dafür ausgelegt sind, bei schweren Erkrankungen einzuspringen. Sogar die ärmsten Familien, die gerade genug zu essen haben, teilen das, was sie besitzen, mit einem Nachbarn, der Hunger leidet. Doch jemanden beispielsweise bei der Bezahlung eines Krankenhausaufenthalts zu unterstützen, ginge weit über das einfache Teilen hinaus: Daran müssten sich, angesichts der zumeist hohen Kosten, viele Haushalte beteiligen. Das heißt, es ist durchaus sinnvoll, teure Krankheitsfälle vom moralischen Imperativ »Du sollst deinen Nachbarn helfen« auszunehmen, denn für deren Regelung wären wesentlich kompliziertere soziale Kontrakte notwendig.
Betrachtet man die Absicherung im Wesentlichen als moralische Verpflichtung, einem Menschen in Not beizustehen, wird verständlich, weshalb die nigerianischen Dorfbewohner einander auf individueller Basis halfen, statt alles in einen gemeinsamen Topf zu stecken, obwohl diese Form der Risikostreuung viel effektiver wäre. So lässt sich vielleicht auch erklären, warum Ibu Emptats Tochter ihrer Mutter zwar den Fernseher schenkte, aber nicht die Kosten für die Behandlung ihres Vaters übernahm. Sie wollte nicht das Kind sein, das sich um die Gesundheit ihrer Eltern kümmert (und sie wollte nicht auf die Großzügigkeit ihrer Geschwister bauen). Daher entschied sie sich für eine nette Geste, ohne sich zu übernehmen.
Wo sind die Versicherungsgesellschaften für die Armen?
Angesichts der hohen Kosten von Risiken und der begrenzten Absicherung durch informelle Solidaritätsnetzwerke stellt sich die Frage, weshalb Arme keinen besseren Zugang zu richtigen Versicherungen, also solchen bei einer Versicherungsgesellschaft abgeschlossenen, haben. Versicherungen mit Versicherungsvertrag findet man bei Armen so gut wie nie. Krankenversicherungen, Versicherungen gegen wetterbedingte Ernteausfälle oder den Verlust des Viehbestands, die für Bauern in reichen Ländern ganz selbstverständlich sind, haben in Entwicklungsländern Seltenheitswert.
Nachdem mittlerweile jeder schon einmal von Mikrokrediten gehört hat, bieten sich Versicherungen für Arme geradezu als Geschäftsmodell für kreative Kapitalisten mit edler Gesinnung an (in einem Forbes -Kommentar war von einem »jungfräulichen natürlichen Markt« 18 die Rede). Die Armen haben unglaublich viele Risiken zu gewärtigen und sollten daher willens sein, eine vernünftig bemessene Prämie für die Versicherung von Leib und Leben, Vieh und Ernte zu bezahlen. Mit Milliarden von potenziellen Versicherungsnehmern könnte diese Geschäftsidee selbst bei minimalem Profit pro Einzelpolice zu einem phänomenalen Erfolg werden, gleichzeitig würde den Armen der Welt enorm geholfen. Das Einzige, was noch fehlt, ist jemand, der die Sache in die Hand nimmt: Das motivierte internationale Organisationen (wie die Weltbank) und große Stiftungen (wie die Gates Foundation ), Hunderte
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