Poor Economics
einem der größten marokkanischen Mikrofinanzinstitute; für sie evaluieren wir, welche Auswirkungen der Zugang zu Mikrokrediten in ländlichen Gemeinden hat, die vorher über keinerlei formelle Geldquellen verfügten. Nach etwa zwei Jahren wurde klar, dass Al Amana in den Dörfern nicht so viele Kunden gewann, wie man gedacht hatte. Obwohl es keine Alternativen gab, interessierte sich nur eine von sechs möglichen Familien für einen Kredit. Um herauszufinden, warum das so war, reisten wir mit ein paar Mitarbeitern von Al Amana in ein Dorf namens Hafret Ben Tayeb, wo niemand einen Kredit aufgenommen hatte, und befragten einige Familien. Unter anderem wurden wir von Allal Ben Sedan empfangen, Vater von
drei Söhnen und zwei Töchtern, alle erwachsen. Er besaß vier Kühe, einen Esel und 80 Olivenbäume. Einer seiner Söhne arbeitete bei der Armee, einer kümmerte sich um die Tiere, der dritte saß meist untätig herum (seine Hauptbeschäftigung war das Schneckensammeln, wenn Saison war). Wir fragten Ben Sedan, ob er einen Kredit aufnehmen möchte, um noch ein paar Kühe zu kaufen, um die sich sein arbeitsloser Sohn dann kümmern könnte. Er erklärte uns, dass sein Feld dafür zu klein sei – wenn er mehr Kühe kaufte, hätte er keine Weide für sie. Bevor wir gingen, wollten wir noch wissen, ob es denn irgendetwas gäbe, das er mithilfe eines Kredits gerne machen würde. »Nein«, antwortete er. »Wir brauchen nichts. Wir haben Kühe und Oliven, die wir verkaufen. Das reicht für unsere Familie.«
Ein paar Tage später trafen wir Fouad Abdelmoumni, den Gründer von Al Amana, einen äußerst warmherzigen und klugen Mann, der wegen seiner Vergangenheit als Aktivist jahrelang als politischer Gefangener im Gefängnis gesessen hatte und sich nun voll und ganz der Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen widmete. Wir sprachen über die erstaunlich geringe Nachfrage nach Mikrokrediten. Bei dieser Gelegenheit erzählten wir ihm die Geschichte von Ben Sedan, der der Meinung war, dass er das Geld nicht brauchte. Fouad entwarf einen leicht umsetzbaren Businessplan für ihn. Mit dem Kredit könnte er einen Stall bauen und vier junge Kühe kaufen. Die brauchten nicht auf dem Feld zu grasen, man könnte sie im Stall füttern. Nach acht Monaten ließen sich die Kühe mit saftigem Gewinn verkaufen. Fouad war davon überzeugt, dass Ben Sedan der Plan einleuchten würde, wenn man ihn ihm erklärte, und dass er dann auch einen Kredit haben wollte.
Was uns überraschte, war der Kontrast zwischen Fouads Enthusiasmus und dem Beharren von Ben Sedan, dass seine Familie nichts brauchte. Dabei schien es ihm nichts auszumachen, arm zu bleiben: Er war sehr stolz auf seinen Sohn, der eine Krankenpflegeausbildung gemacht hatte und jetzt als Sanitäter bei der Armee beschäftigt war. Sein Sohn, so dachte er, hatte eine echte Chance
auf ein besseres Leben. Hatte Fouad also recht? Brauchte Ben Sedan nur jemanden, der ihm einen Businessplan unterbreitete? Oder lehrt uns die Geschichte von Ben Sedan etwas Wichtiges – immerhin war der Mann fast sein ganzes Erwachsenenleben lang im »Kuhgeschäft« tätig?
Muhammad Yunus, der Gründer der weltberühmten Grameen Bank, nennt Arme oft unternehmerische Naturtalente. Zusammen mit der an Geschäftsleute gerichteten Aufforderung des verstorbenen Wirtschaftswissenschaftlers Coimbatore Krishnarao Prahalad, sie sollten sich mehr auf das konzentrieren, was dieser als den »Boden der Pyramide« 1 bezeichnete, macht es die These von den unternehmerischen Armen für Big Business und Hochfinanz ausgesprochen attraktiv, sich auf dem Feld der Armutsbekämpfung zu engagieren. Das klassische staatliche Handeln wird durch private Initiativen ergänzt, oft auf Anregung einzelner Firmenchefs (wie etwa Pierre Omidyar von der Internetplattform ebay ), das den Armen dabei helfen soll, ihr unternehmerisches Potenzial zu entfalten.
Zentraler Bestandteil von Yunus’ Weltsicht, die auch von vielen anderen in der Mikrofinanzbewegung geteilt wird, ist die Überzeugung, dass jeder Mensch das Zeug zum erfolgreichen Unternehmer hat. Genauer gesagt gibt es zwei Gründe, warum Arme unternehmerisch eigentlich in einer besonders guten Ausgangssituation sind. Zum einen hat ihnen noch niemand eine Chance gegeben, so dass ihre Ideen vermutlich frisch und unverbraucht sind. Zum zweiten hat der Markt den Boden der Pyramide bislang weitgehend ignoriert. Aus diesem Grund, so die Argumentation, sollten Innovationen, die das Leben
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