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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Angst habe» . (wir haben in der Schule gerade mit Mengenlehre angefangen), befindet, im Vergleich dazu ganz toll. Die Tage zum Beispiel
     sind richtig toll. Wenn ich tagsüber traurig werde, weil mein Vater fort ist, wenn ich mich in der Schule langweile oder wegen
     einem Streit auf dem Schulhof sauer bin, denke ich einfach, dass ja nicht Nacht ist,dass es nicht dunkel ist und ich nicht allein bin. Manche Menschen sind die ganze Zeit über nur mäßig gut gelaunt oder immer
     ein bisschen glücklich und ein bisschen traurig. Wenn man ihre Gefühle durch einen Graphen darstellen würde, wären sie eine
     einzige gerade Linie, vielleicht mit einem ganz kleinen Ausschlag an Weihnachten oder am Geburtstag. Der Graph meines Innenlebens
     würde von Bergen und Tälern nur so wimmeln. Allein der Sonnenaufgang kann mich schon in Hochstimmung versetzen. Vor mir liegen
     ganze neun, vielleicht sogar zehn Stunden, bis es wieder dunkel wird! Hurra! Und im Sommer wird alles noch viel besser, weil
     es dann viel weniger lange dunkel ist als jetzt. Manchmal hat Angst auch ihr Gutes. Man weiß das Leben mehr zu schätzen, und
     alles, was die Angst noch nicht versaut hat, ist umso wunderbarer.
    Deshalb finde ich auch nicht, dass ich mit meiner Angst zum Arzt muss, und das habe ich meinen Großeltern erklärt. Natürlich
     will ich nie mit irgendwas zum Arzt. Das Behandlungszimmer ist ein potenziell gefährlicher Ort, und ich möchte wirklich nicht
     in die Verlegenheit kommen, von dort fliehen zu müssen (wenn er nun plötzlich seine Zange zückt oder sich in einen Außerirdischen
     mit einer Bakterienpistole verwandelt?   …
Peng
! – Ich schmelze!). Außerdem habe ich gehört, dass so ein Arzt einen ins Kinderheim schicken kann, wenn er den Eindruck hat,
     man würde misshandelt. Ich bin zwar noch nie misshandelt worden, aber meine Familie ist in mancher Hinsicht vom Pech verfolgt
     und irgendwie anders, und das reicht ja manchmal schon. Wenn ich in ein Kinderheim müsste, würde man mich dort bestimmt in
     ein dunkles Zimmer sperren, und ich müsste entweder fliehen (was dann wieder dazu führen würde, dass ich irgendwo allein im
     Dunkeln lande, womöglich noch im Wald) oder mich umbringen. Die Vorstellung, mich umzubringen, behagt mir nicht, aber wenn
     es gar nicht anders geht, würde ich es schon machen.Ich wünschte, ich hätte eine Zyankalikapsel für den Notfall, so wie mein Großvater im Krieg.
    Inzwischen ist es schon fast zwei Monate her, seit ich den Männern an der Bushaltestelle begegnet bin. Es ist kurz vor Weihnachten,
     ich habe bereits zehn Türchen an meinem Adventskalender aufgemacht. Meine Großeltern lassen mich weiter nachts in ihrem Zimmer
     schlafen, und bald kommt Rachel nach Hause. Eigentlich ist das Leben also gar nicht so schlecht. An manchen Tagen habe ich
     nicht einen schrecklichen Gedanken, und das ist schön, vor allem, wenn man es mit den Tagen vergleicht, an denen die schrecklichen
     Gedanken sich wie Schlangen in einer Grube winden, in die man dann hineinfällt, und weit und breit ist keine Leiter.
    Ich denke viel über Mengen nach. Eine Menge ist ein Matheausdruck und bezeichnet eine Ansammlung von Dingen, die eine bestimmte
     Eigenschaft teilen. Man kann eine Menge aus geraden Zahlen bilden oder eine Menge aus allen Zahlen, die kleiner sind als 100.   Man kann aus allem Möglichen Mengen bilden, das hat etwas Ordentliches, Aufgeräumtes, als könnte man seine Gedanken in Schubladen
     im Gehirn räumen. Manche Mengen sind aber auch potenziell verwirrend. Beispielsweise könnte es ja auch eine «Menge aller Mengen»
     geben. Enthält diese Menge sich dann selbst oder nicht? Natürlich muss sie sich eigentlich selbst enthalten – aber wie sollte
     das möglich sein? So eine Situation, in der etwas gleichzeitig richtig und falsch oder wahr und unwahr ist, bezeichnet man
     als Paradoxon. Ich liebe Paradoxa! Wenn ich groß bin, kaufe ich mir eine Katze und taufe sie Paradoxon. Wenn man beispielsweise
     in die Vergangenheit reist und einen seiner Vorfahren umbringt, dann ist das ein Paradoxon, weil man dadurch nämlich die eigene
     Geburt verhindert. Aber wenn man nicht existiert, kann man auch nicht in die Vergangenheit reisen und jemanden umbringen.
     Ich habe ein wissenschaftliches Buchgelesen, in dem steht, dass Zeitreisen in die Vergangenheit genau aus diesem Grund unmöglich sind. Jedes System, das Paradoxa
     unterstützt, ist in sich fehlerhaft. Vielleicht ist das mit den Mengen ja

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