PopCo
heute in jedem Supermarkt hundert verschiedene Haarspangen kaufen kann? Oder würden sie durchschauen, wie diese Gleichung
funktioniert: dass man nur dann so viel auf eine Seite packen kann, wenn man auf der anderen Seite eine große Menge wegnimmt?
Irgendwann geht Dan, und ich stelle fest, dass ich ihm gar nicht mehr viel zu sagen habe. Die letzten zehn Tage haben meinen
Kopf völlig durcheinandergebracht. Ich habe das Gefühl, als würde meine Festplatte neu formatiert und Dan wäre irgendeine
alte Registry-Datei, die jetzt mit etwas anderem überschrieben wird. Vielleicht ist sie einfach leer, vielleichtauch voller Fragezeichen. Ich hätte gern gewusst, was an dem Gerücht dran ist, dass er zu Kieran wechseln will, aber er ist
selbst nicht darauf zu sprechen gekommen. Was ist nur los mit mir? Wohin sind die ganzen Scherzchen über Rückzug und Kollaborateure
und Schießereien verschwunden? Früher haben wir über den Feind gewitzelt, ohne eigentlich daran zu glauben, dass es überhaupt
einen Feind gibt. Aber vielleicht gibt es ihn ja doch. Vielleicht wird mir plötzlich immer klarer, wer dieser Feind ist. Vielleicht
bin ich es selbst.
Um kurz nach sechs klopft es erneut. Das wird Ben sein. Aber nein. Es ist Chloë.
«Hallo», sagt sie schüchtern mit ihrer sanften, keltischen Stimme. «Darf ich …?»
«Aber klar. Natürlich.» Ich trete beiseite, um sie hereinzulassen.
Sie kommt ins Zimmer und wirkt dabei ganz und gar weich und irgendwie fedrig. Heute trägt sie eine schwarze Leinenhose und
ein schwarzes Polohemd und hat die Haare mit einer großen, durchsichtigen Spange am Hinterkopf hochgesteckt. In der Hand hält
sie einen weißen Umschlag, den sie mir überreicht.
«Du scheinst einen Brieffreund zu haben», sagt sie, und ihre Augen funkeln dabei. «Das lag draußen.»
Ich nehme den Umschlag. In der oberen rechten Ecke sehe ich das PopCo-Logo, das kleine Segelboot, und mein Name steht in Großbuchstaben
darauf. Schickt man mich jetzt nach Hause? Werde ich entlassen? Oder ist das endlich die Antwort des geheimnisvollen Codeschreibers?
Weil ich mich gerade unmöglich damit befassen kann, lege ich den Brief auf den Sekretär und setze mich aufs Bett. Chloë hockt
sich auf den äußersten Rand des Sessels, als wollte sie jeden Moment wieder aufspringen.
«Wie geht’s dir denn?», fragt sie.
«Ganz gut», antworte ich, obwohl es mir alles andere als gut geht. Ich frage mich, was sie von mir will. Wir haben kaum ein
Wort gewechselt, seit wir alle hier sind. Ich habe zwar das Gefühl, dass ich sie sehr mögen könnte, wenn ich sie besser kennen
würde, doch irgendwas an ihr verursacht mir auch leichtes Unbehagen. Sie wirkt, als würde sie Dinge, die sie für falsch hält,
nicht einfach durchgehen lassen. Dabei macht sie gar keinen selbstgerechten Eindruck – sie wirkt einfach nur sehr sicher,
auch wenn ich nicht sagen kann, was diese Sicherheit ausmacht.
«Ich bin auf der Suche nach Esther», sagt sie jetzt.
«Esther?» Ich muss an das Notebook denken, daran, wie Esther kichernd mit Ben vor meiner Tür stand. Wann war das? Gestern?
Oder schon vorgestern? «Ich habe Esther schon länger nicht mehr gesehen», sage ich.
«Hat sie dich denn nicht besucht?»
Ich schüttele den Kopf. «Heute zumindest noch nicht.»
«Ach.» Chloë sieht enttäuscht aus. «Ich kann sie nirgendwo finden.»
«Verschwinden kann sie ja offenbar ganz gut», sage ich mit einem leisen Lächeln. Meine Theorie von letzter Woche, dass Esther
sich unsichtbar machen oder in eine Fledermaus verwandeln kann, behalte ich aber für mich. Manchmal erzähle ich solche Sachen,
um einen absurden Witz zu machen, ernte dafür aber meistens nur verständnislose Blicke und Bemerkungen wie «Äh, ja, ist klar …», bevor der andere schnell das Thema wechselt.
«Allerdings», sagt Chloë. Dann schweigt sie kurz und schaut auf ihre Hände. «Ben habe ich in letzter Zeit auch nicht oft zu
Gesicht bekommen.» Sie hebt den Kopf, um mich anzusehen, und ich wappne mich schon für einen traurig-besitzergreifenden Blick,
der alles zwischen Ben und mir viel kompliziertermachen wird. Doch Chloës Gesicht ist ein einziges strahlendes Lächeln. «Er ist sehr glücklich mit dir, weißt du das?», sagt
sie.
«Oh», sage ich. «Ähm …»
«So glücklich habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.»
Ach du Schande. Jetzt weiß ich, wohin das führt. Doch dann macht sie eine auffallend lange Pause.
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