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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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absurd
     das ist: Ich vermisse ihn richtig.
    ***
    Meine neue Überlebensstrategie für die Schule besteht aus einem Gedankengebäude, das sich ständig weiterentwickelt. Anfangs
     nehme ich ein ganzes Sammelsurium von Dingen   – Bilder, Gedanken, Menschen – und packe sie jeden Tag vor der Schule so sorgfältig zusammen, wie mein Großvater mein Pausenbrot
     vorbereitet (ich habe ihm erzählt, dass das mit dem Schulessen doch nicht so toll ist). Ich packe Vorstellungen von Freiheit
     und Gefangenschaft aus dem Buch
Woman on the Edge of Time
dazu und sage mir, dass niemand ein schrecklicheres Leben haben kann als die Hauptfigur Connie, die in einer grauenvollen
     psychiatrischen Anstalt festsitzt, obwohl sie gar nicht verrückt ist. Ich sitze zwar auch in dieser Schule fest, aber ich
     kann immerhin die Tür verriegeln, wenn ich aufs Klo gehe. Andererseits hat Connie die Möglichkeit, durch die Zeitin eine bessere Welt zu reisen. So eine Möglichkeit habe ich nicht. Aber manchmal, wenn es ganz besonders schlimm ist, stelle
     ich mir vor, dass auch ich diese Zukunft in meinem Kopf heraufbeschwören und so einfach dorthin gelangen kann, wie man ins
     nächste Zimmer geht. Dieses Bild von einer anderen Welt trage ich die ganze Zeit im Kopf mit mir herum, zusammengefaltet wie
     eine alte Karte.
    Und ich trage noch anderes im Kopf herum: Schnappschüsse von Roxy, von Jasmine, von der Frau mit den blauen Haaren aus dem
     Klamottenladen. Sie würden sich auch nicht einfach jeden Scheiß gefallen lassen, das weiß ich genau. (Wörter wie «Scheiß»
     benutze ich inzwischen ziemlich häufig, zumindest im Kopf. Das passiert eben, wenn man noch nicht zwölf ist und so viele Erwachsenenbücher
     liest.) Manchmal, wenn einer von den Jungs etwas zu mir sagt, was mich verletzen oder demütigen soll (und dafür gibt es in
     der Schule Myriaden von Möglichkeiten), antworte ich ihm mit einem so schrecklichen Wort, dass er mich erst mal in Ruhe lässt.
     Als Mark neulich auf mich zukam und wissen wollte, wieso ich eigentlich keine Freundinnen habe, habe ich ihn mit meinem Roxy-Blick
     fixiert, mir vorgestellt, ich hätte blaue Haare, und zu ihm gesagt: «Fick dich ins Knie, Mark.» So was sagt sonst kein Mensch
     an der Schule, zumindest nicht im ersten Schuljahr. Ein anderes Mal hatten sie so ein Flugblatt gegen Tierversuche dabei und
     haben mich die ganze Zeit gefragt: «Wo ist denn deine Katze, Butler?» Ich wusste nicht, was sie wollten, bis sie mir das Blatt
     aufs Pult geknallt haben. Auf dem Foto sah man eine Katze mit halb freigelegtem, verkabeltem Gehirn. «Da ist deine Katze,
     Butler», riefen die anderen. «Leider ist sie schon ziemlich hinüber.» Dann fingen sie alle an zu lachen. Wahrscheinlich erwarteten
     sie, dass ich losheulen oder mir in die Hose machen würde. Ich habe mir aber einfach nur ganz ruhig das Foto angeschaut, die
     anderen mit irritiert-erwachsenemBlick gemustert und gesagt: «Ich habe doch gar keine Katze, ihr Schwachmaten.» Natürlich würde ich ihnen niemals zeigen, wie
     sehr mich so etwas verstört. Inzwischen beherrsche ich nämlich ein paar Grundregeln. Nur auf dem Klo weinen beispielsweise,
     niemals in der Öffentlichkeit. Und am besten auf dem gruseligen, dunklen Klo im dritten Stock, wo sonst keiner hingeht. Schimpfwörter
     verwenden, die die anderen nicht verstehen. Ihnen Angst machen, bevor sie mir Angst machen können. Und niemals schwächer sein
     als sie.
    Mein Pausenbrot esse ich jetzt immer bei den Ziegen im Fachbereich Landwirtschaft, und dort mache ich auch den größten Teil
     meiner Hausaufgaben, um zu Hause mehr Zeit mit meinen Großeltern verbringen zu können. Außerdem streiche ich die Tage auf
     einem Blatt Papier durch, das ich immer bei mir trage. Ich habe mir ausgerechnet, dass meine Haftstrafe noch etwa tausendzweihundertundfünf
     Tage betragen dürfte. Es ist ein bisschen deprimierend, dass ich davon erst ungefähr dreißig abgesessen habe, aber es gibt
     ja noch Plan B, den ich immer noch nicht komplett verworfen habe, obwohl es fast so schwierig ist, bei uns im Dorf Leute zu
     finden, die mich ihr Auto waschen lassen, wie herauszufinden, was in meinem Medaillon steht.
    Nach und nach hören die anderen auf, mich zu ärgern. Ich habe für klare Verhältnisse gesorgt. Ich bin komisch, aber ich bin
     auch gemein, und wenn sie mich aufs Korn nehmen, zahle ich es ihnen mit mindestens gleicher Münze zurück. Das kann ich natürlich
     unmöglich viel länger als zwei

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