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Dan mit seiner Hypothek, seiner Mitgliedschaft im Fitnessclub und seinem Auto. Was müsste wohl passieren,
damit er das alles aufgibt? Man braucht sich nur ein Kind, eine schwangere Ehefrau und gestiegene Zinsen dazuzudenken, schon
hat man eine Situation, in der er mit dem Job auch alles andere verlieren würde. Allein die Vorstellung, der schwangeren Frau
eröffnen zu müssen, dass man aus dem geräumigen Reihenhaus in Südlondon mit dem gemeinsam verlegten Parkettboden ausziehen
und sich stattdessen eine billige Mietwohnung suchen muss! Die hätte wahrscheinlich scheußlichen Teppichboden und einen schmierigen
Vermieter, der jedes halbe Jahr auf der Matte steht, um nach dem Rechten zu sehen, und der einen innerhalb von zwei Monaten
vor die Tür setzen kann!
Aber Fabrikarbeiter in China misst man natürlich nicht mit denselben Maßstäben. Ein Schriftsteller, den ich sehr schätze,
hat einmal gesagt, auf alten Friedhöfen sehe man oft Grabsteine, die den Tod von Säuglingen im Alter von sechs oder neun Monaten
verzeichnen – manchmal sogar mehrere in einer Familie –, und irgendwie scheine man immer zu glauben,dass diese Verluste weniger gravierend gewesen sein müssten, weil sie so häufig waren und irgendwelchen Fremden in grauer
Vorzeit passiert sind. Man glaube, die fernen Fremden müssten sich daran «gewöhnt» und es deshalb als weniger schmerzlich
empfunden haben, ein Kind zu verlieren, als beispielsweise wir. Aber damit sprechen wir diesen Leuten doch ihre Menschlichkeit
ab. Natürlich ist der Schmerz genauso groß. Wenn wir uns die chinesischen Fabrikarbeiter auch so vorstellen, als irgendwelche
Fremden, die vielleicht zu viert oder fünft in einem Zimmer hausen, sich fast nur von Reis ernähren und von den Almosen der
großen Unternehmen leben, indem sie sich von ihnen ausbeuten lassen; und wenn wir dann noch glauben, diese exotischen Menschen,
die wir uns da ausdenken, könnten mit dem, was sie haben, glücklich sein … Grenzt das dann nicht auch daran, dass wir ihnen die Menschlichkeit absprechen?
Dann fällt mir noch etwas anderes ein. Ein Ausspruch. Von wem stammt der noch gleich? Ich glaube, es war der Vater eines Exfreundes
von mir, der vor langer Zeit einmal sagte: «Kauf nie etwas Billiges. Mit billigen Waren bringst du einen anderen Menschen
um den Lohn seiner Arbeit.»
Ich betrachte die Teeniezeitschrift, in der Dan inzwischen blättert, und denke mir, dass wahrscheinlich etwa neunzig Prozent
der Kleider, Taschen und Portemonnaies darin in irgendeinem Ausbeutungsbetrieb hergestellt wurden. Und fünfundneunzig Prozent
der Kosmetikprodukte wurden wahrscheinlich an Tieren getestet. Wie viel Blut, Schmerz, Plackerei und Quälerei fließen eigentlich
in die Herstellung all dieser Produkte, die so leicht und locker und lustig sein sollen? Unsereins kriegt hohe Gehälter dafür,
dass wir uns die Sachen ausdenken, doch hergestellt und getestet werden sie dann – ja, wo? An irgendeinem unsichtbaren Ort,
einem Ort, der keine Rolle spielt, irgendwo ganz weit weg. Natürlich wissen wir alle, dass auch die fertigen Produkte eigentlich
keine Rollemehr spielen. Wichtig ist nur das Logo, die Idee, der Lifestyle, die Marke. Große Unternehmen müssen heute Millionen dafür
ausgeben, ihre Marken zu etablieren. Sie zahlen erfolgreiche Sportler und Schauspielerinnen als Werbeträger, sie zahlen Marketinggurus,
die für die «virale Verbreitung» sorgen, und so geht das immer weiter. Wie sollen sie auch sonst im Wettbewerb bestehen? Wahrscheinlich
ist für die eigentliche Produktion irgendwann einfach kein Geld mehr da. Womöglich müssen die Menschen, die die Produkte herstellen,
genau deshalb in Armut leben, und das Material ist genau deshalb von so schlechter Qualität, dass man selbst bei den coolsten
Turnschuhen irgendwann die Klebenähte sieht. Für die Marktetablierung wird gezahlt, für alles andere nicht.
Ich frage mich, wie meine Großeltern wohl reagieren würden, wenn sie noch lebten und man ihnen eine Rundreise durch das «billige»
Großbritannien anböte – einen Ort, den sie im Grunde gar nicht kannten, auch wenn er seine Existenz bereits zu ihren Lebzeiten
begann. Würden auch sie sich mit billigem Fleisch, billigen Klamotten und billigem Schnickschnack eindecken, den kein Mensch
braucht, dem aber auch kein Mensch widerstehen kann, weil er eben so irrsinnig billig ist? Würden sie es als Fortschritt empfinden,
dass man
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