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eine ganz lustige Theorie.
Voynich hatte behauptet, das Manuskript 1912 in einem Jesuitenkloster entdeckt zu haben, es existieren jedoch keinerlei Aufzeichnungen
darüber. Außerdem hatte er als Antiquar nicht nur freien Zugang zu Schreibpergament, er war auch ausgebildeter Chemiker und
hatte bei der polnischen Proletariatsbewegung Erfahrung mit dem Fälschen von Dokumenten gesammelt. Doch wenn man sich mit
dem Voynich-Manuskript beschäftigt, will man ja im Grunde nicht, dass es eine Fälschung ist, und so ließ mein Großvater dieseThese nach ein, zwei Jahren wieder fallen und befasste sich stattdessen mit einer anderen, die inzwischen sehr populär geworden
ist: dass nämlich John Dee und Edward Kelley das Manuskript verfassten, um reiche Gönner in Europa zu finden.
Doch in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod tat mein Großvater plötzlich wieder das, wobei ich ihm schon als Zehnjährige
geholfen hatte: Er zählte Wörter und Buchstaben und gab die Ergebnisse in mathematische Funktionen ein, um zu sehen, was dabei
herauskam. Es kam natürlich überhaupt nichts dabei heraus.
Eines Abends, nachdem er mich den vierten Tag in Folge beim Go geschlagen hatte, setzte mein Großvater sich in seinen großen,
braunen Ohrensessel, stocherte ein wenig im Kaminfeuer und zückte dann seine Lupe, um die Buchstaben einer ganz bestimmten
Seite zu zählen. Es handelte sich zufällig um die berühmteste Seite des ganzen Manuskripts. Ich konnte mich noch gut erinnern,
wie mein Großvater mir einmal von William Newbold erzählt hatte, der um 1919 mit dem Manuskript zu arbeiten begann und dem
es schließlich gelang, mit Hilfe einer völlig verrückten Mischung aus kabbalistischer Gematrie, Anagrammierung und faulem
Zauber eine Passage zu «entschlüsseln», die mit den Worten «
Scripsi Rogerus Bacon
» begann (wobei er mit seiner Methode wahrscheinlich so ziemlich alles hätte herauslesen können, zumal man inzwischen weiß,
dass sowohl Newbold als auch Voynich selbst der Ansicht waren, der Text stamme von Roger Bacon). Später versuchte sich dann
Joseph Martin Feely an einer Entschlüsselung, und zwar anhand einer einzigen Abbildung aus Newbolds Buch, genau der Seite,
die mein Großvater sich an jenem Abend vornahm. Feely glaubte, eine schlichte Substitutionschiffre vom Lateinischen ins «Voynichesische»
entdeckt zu haben. Ein Auszug seiner Übersetzung lautet: «Gut durchfeuchtet verzweigt es sich; dann wird es kleiner zerteilt;
hinterher, aus der Ferne,gelangt es in die vordere Blase.» Kein allzu überzeugendes Ergebnis, auch wenn es auf der fraglichen Seite tatsächlich um
Rohrsysteme zu gehen scheint und die Abbildung nackte Frauen in merkwürdigen Behältern mit einer grünlichen Flüssigkeit zeigt.
Inzwischen war auch mein Großvater ganz besessen von dieser Seite. Und falls seine Zählungen jetzt eine ungerade statt einer
geraden Anzahl von Buchstaben ergäben, würde womöglich etwas Bemerkenswertes passieren. Was genau, führte er allerdings nicht
aus. Auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel entdeckte ich seine ursprünglichen Berechnungen und daneben ein kleines blaues
Schulheft, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
«Ist das meins?», erkundigte ich mich neugierig.
«Mm-hm», machte er, ohne die Lupe sinken zu lassen.
«Darf ich mal reinschauen?», fragte ich.
Er reichte mir das Heft, und ich schlug es auf. Es war genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: lange Zahlenreihen, sorgfältig
beschriftet in meiner komischen Zehnjährigen-Schrift. Ich musste lachen.
«Mein Gott, ich habe das alles so ernst genommen», sagte ich beim Weiterblättern. Gegen Ende des Heftes kamen die Ergebnisse
der schwierigsten und langweiligsten Aufgabe: der Primzahlfaktorisierung. «Lieber Himmel», sagte ich zu meinem Großvater.
«Ich hatte ja schon wieder ganz vergessen, dass ich das alles auch noch gemacht habe. Dafür muss ich doch eine Ewigkeit gebraucht
haben.»
Mein Großvater sah zu mir auf und legte kurz die Stirn in Falten.
«Weißt du, was wirklich merkwürdig daran ist?», fragte er mich.
«Nein, was denn?»
«Du hast alles richtig gemacht. Alle deine Berechnungen haben genau gestimmt.»
Ich lächelte. «Wow!»
Er lächelte zurück. «Ja.» Dann nahm er die Lupe wieder in die Hand.
«Weißt du, ich habe mich immer gefragt …», setzte ich an.
«Ja?»
«Hast du mir diese Aufgabe damals eigentlich gegeben, um mich … na ja, du weißt schon
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