PopCo
einiger Zeit trage ich
mich jetzt schon mit der Idee, mit dem Buch über PopCo anzufangen, über meine Kindheit und das Stevenson-Heath-Manuskript,
aber ich schiebe es immer wieder auf: Die Entwicklung des NoCo-Codes nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Doch heute Abend
denke ich an nichts anderes als an den Mond. In den letzten Jahren hatte ich immer Angst davor, meinen Gedanken hier im Haus
freien Lauf zu lassen, weil es immer am selben Punkt endete: bei meinem Großvater und dabei, wie sehr ich ihn vermisse. Wenn
ich bei Ben bin (und das bin ich ziemlich oft in letzter Zeit), ist es weniger schlimm, aber ich mache mir trotzdem Sorgen
wegen des Buches, das schließlich nur aus Erinnerungen bestehen wird. Doch heute Abend ist es aus irgendeinem Grund nicht
so schlimm. Heute Abend kann ich einfach den Mond betrachten, ohne dass etwas Schlimmes passiert.
Ich mache den Abwasch zu Ende, trockne mir die Hände an einem dünnen Baumwollküchentuch und hole eine Dose Katzenfutter aus
der Vorratskammer. Atari streicht mir um die Beine, während ich die Dose auf dem kleinen Tisch neben der Spüle öffne (wir
haben uns nie eine Einbauküche zugelegt)und dabei immer noch aus dem Fenster schaue. Ich denke an die Notiz, die ich gestern in mein «Ideenbuch» geschrieben habe:
dass der Mond aussieht, als hätte jemand ein Loch in den Himmel gestanzt. Der heutige Mond sieht nicht aus wie gestanzt, sondern
wie aus dem Himmel herausgerissen, dass der Stoff ringsum ausfranst. Jetzt habe ich also gleich zwei neue Ideen: einen Löschpapier-Mond
und einen, der aus dem Stoff-Himmel herausgerissen wurde. Ich fülle das Futter in Ataris Napf und gehe durch den Flur, die
Treppe hinauf. Ich werde einfach beide Ideen in mein abgegriffenes rotes Buch schreiben, das bereits etliche Grüntee-Flecken
hat, auch wenn ich letztlich vermutlich keine von beiden verwende. Was soll das auch? Wie soll ich überhaupt ein Buch schreiben,
das kein gescheites Ende hat? Natürlich kann ich die PopCo-Geschichte erzählen – der Name «PopCo» für die Firma gefällt mir
übrigens ausgesprochen gut, fast besser als der richtige Name. Vielleicht gewinne ich ja noch eine Kiste Champagner, wenn
ich den Vorschlag einreiche? Doch wozu soll die Stevenson-Heath-Sache gut sein, wenn die Auflösung fehlt? In diesem Teil der
Geschichte scheint nichts ein Ende zu haben. Es gibt keinen Beweis für die Riemann’sche Vermutung, keine Lösung für das Voynich-Manuskript.
Und das Einzige, worauf es eine Antwort gäbe – nun, ich weiß zwar, dass es sie gibt, aber ich kenne sie nicht.
Das Arbeitszimmer war schon immer das wärmste Zimmer im ganzen Haus. Als wir einzogen, haben mein Großvater und ich uns mit
der Einrichtung dieses Zimmers die größte Mühe gegeben; es ist sogar das einzige, in dem wir etwas verändert haben. Das Wohnzimmer
unten behielt seinen gelben Maklerbüroanstrich, und in der Diele klebt immer noch die Raufasertapete, die wir ganz sicher
irgendwann beseitigen wollten. Aber mit dem Arbeitszimmer haben wir uns Mühegegeben. Es war ja schließlich auch der meistgenutzte Raum. Mein Großvater verbrachte den ganzen Tag dort, schürte das Kohlenfeuer
in dem kleinen viktorianischen Kamin, stellte Kreuzworträtsel zusammen und arbeitete am Voynich-Manuskript. Abends kam ich
dazu, und wir arbeiteten schweigend gemeinsam weiter, bis ich das Abendessen machte: Suppe und selbstgebackenes Brot, wenn
mein Großvater an dem Tag gerade gebacken hatte, oder Rühreier auf Toast, wenn das Brot vom Vortag war.
Nach dem Abendessen gingen wir wieder ins Arbeitszimmer zurück und spielten eine Stunde Schach oder Go, um uns dann erneut
an die Arbeit zu machen. Ich hatte damals längst das Interesse am Voynich-Manuskript verloren. Oder nein, vielleicht ist das
gar nicht der richtige Ausdruck … Wenn ich ehrlich bin, machte es mich schlicht und einfach wütend. Ich hatte das Gefühl, dass mein Großvater sein Leben damit
verschwendete, obwohl es offensichtlich keine Lösung gab. Und trotzdem saß er Tag für Tag über seinen Büchern und der neuesten
Kopie des Manuskripts, die er sich aus der Beinecke-Bibliothek für seltene Bücher und Manuskripte der Universität Yale hatte
schicken lassen. Ich hatte gehofft, er würde wieder zu der Vermutung zurückkehren, die er Mitte der Neunziger eine Zeitlang
verfolgt hatte, dass Voynich das Manuskript nämlich eigenhändig gefälscht habe. Das war zumindest noch
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