Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
PopCo

PopCo

Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
Vom Netzwerk:
Sie glaubte,
     einen Inzest beobachtet zu haben, einen schamlosen Inzest, vor aller Augen. Francis und Molly, die halb entkleidet unter den
     Obstbäumen lagen, konnten nicht ahnen, dass sie gesehen worden waren und nie mehr zusammen dort liegen würden. Man ahnt schließlich
     nie, was das Leben in den nächsten fünf Minuten bereithält. Und wäre Sarahs Vater nicht ebenso erzürnt über Younges Fernhandel
     gewesen wie die übrigen Dorfbewohner, er hätte seine Tochter sicherlich nur ermahnt, sich nicht lächerlich zu machen – schließlich
     war er einer der wenigen im Dorf, die über Francis’ Herkunft Bescheidwussten, weil er ihn als Säugling untersucht hatte. So aber behielt er sein Wissen ebenso für sich wie die Tatsache, dass
     er eigentlich ein Freund der Familie war, und beschwerte sich bei Mary und Thomas Younge über das, was Sarah beobachtet hatte.
     Sarah ihrerseits wartete noch mit der Behauptung auf, Francis habe sich ihr unsittlich genähert. War er denn durch und durch
     verdorben? Erst schlief er mit der eigenen Schwester, um es dann auch noch bei der Arzttochter zu versuchen! Solches Verhalten
     wurde 1618 empfindlich geahndet, und so blieb Francis Stevenson, als ihm zu Ohren kam, was geschehen war, kein anderer Ausweg
     als die Flucht, wenn er sich nicht vom Dorfmob aufknüpfen lassen wollte. Mary war traurig, ihn ziehen zu lassen, doch längst
     nicht so verzweifelt wie die arme Molly. Die beiden halfen ihm, sich davonzumachen, während Thomas Younge noch mit dem Arzt
     in der Stube saß und mit ihm besprach, was Sarah beobachtet hatte. Es war nur allzu klar, dass Francis bald ergriffen und
     angeklagt werden würde. Während Mary ein paar Kleider sowie Brot, Käse und Apfelwein zusammenklaubte, weinte Molly sich die
     Augen aus. Vielleicht ahnte sie ja bereits, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. Mary schnürte Francis den Ranzen, fügte
     noch eine kleine Börse mit Münzen hinzu und sagte ihm, er solle ein Pferd nehmen und so weit wie irgend möglich aus dem Dorf
     fliehen. Francis gehorchte.
    Als er davonritt, rief er Molly über die Schulter zu: «Eines Tages komme ich dich holen, Schwester!»
    Und sie erwiderte: «Ich werde auf dich warten, Bruder.»
    Womöglich war es doch Inzest, auch wenn es keiner war.
     
    Plymouth war grau wie das Gesicht eines Toten, als Francis dort eintraf. Es roch modrig, von nächtlichem Nebel durchtränkt.
     In den schmutzigen Straßen mischten sich Fischabfälle mit Schweiß, Blut und Dreck, und alles war salzverklebt.Als Francis sich die Lippen leckte, schmeckte er Salz. Es schien ihm bis in die Augen zu dringen und brannte dort. Am Hafen
     war es laut und gefährlich, und es roch noch abscheulicher. Immerhin war er in Sicherheit, fern von dem Dorf, fern der drohenden
     Lynchjustiz. Doch er fühlte sich unwohl. Es gab keine Farben hier, keinen Raum. Er wurde förmlich aufs Meer gedrängt.
    Am Hafen fand Francis ein Gasthaus, das er etwa eine Woche lang würde bezahlen können, während er versuchte, auf einem der
     Schiffe anzuheuern. Auf See ließ sich gutes Geld verdienen, wenn man zu schwerer Arbeit und dem einen oder anderen Risiko
     bereit war. Innerhalb weniger Jahre konnte man es zum Maat oder sogar zum Kapitän bringen, sofern man nicht vorher ertrank
     oder eines anderen unschönen Todes starb. Der junge Francis hatte keine Furcht mehr vor dem Tod. Er trauerte um seine verlorene
     Liebe und machte sich wenig daraus, was aus ihm wurde. Sosehr er sein Heim und seine Pflegefamilie vermisste, so genau wusste
     er doch, dass dieser Teil seines Lebens nun vorüber war. Sein fernes Ziel bestand natürlich darin, eines Tages als reicher
     Mann, vielleicht auch unter falschem Namen, zurückzukehren und Molly zu sich zu holen. Doch wie zu den nötigen Reichtümern
     gelangen? Lange nach ihm sollte ein kluger Mann einmal äußern, das Leben als Seemann sei einem Leben in Gefangenschaft vergleichbar,
     nur dass man zudem auch noch ertrinken könne. Doch Francis glaubte, auf See die Freiheit zu finden. Er spürte es in der faulig
     stinkenden Luft ringsum: Das würde sein Schicksal sein.
    Nach zwei Nächten im Gasthof konnte Francis sich bereits ein Bild von dem machen, was ihn an Bord erwarten würde, und er hatte
     auch einiges über das Los der Abenteurer in Erfahrung gebracht, die vor ihm von diesem Hafen aus aufgebrochen waren. Ganz
     Plymouth schwirrte noch von Geschichten über Sir Walter Raleigh, der vor nicht allzu langer Zeit hier

Weitere Kostenlose Bücher