Populaermusik Aus Vittula
erschien wie das ganze Norra Norrland, dafür aber grün gefärbt war von verdammt reger Landwirtschaft. Es dauerte viele Jahre, bis ich das Maßstabssystem durchschaute und kapierte, dass Skane, ja unser gesamter südlicher Landesteil von Küste zu Küste, Platz zwischen Haparanda und Boden finden würde.
Wir lernten alles über Kinnekulle, 306 Meter über dem Meeresspiegel. Aber kein Wort über Käymävaara, 348 Meter. Wir mussten Viskan, Ätran, Spyan und Gallan oder wie sie auch immer hießen, lernen, vier kolossale Flüsse, die das südschwedische Hochland entwässerten. Viele Jahre später sah ich sie mit eigenen Augen. Ich musste einfach anhalten, aus dem Wagen steigen und mir die Augen reiben. Ein Graben. Kleine Waldbäche, die kaum zum Flößen geeignet wären. Kaunisjoki oder Liviöjoki, größer waren sie nicht.
Die gleiche Fremdheit spürte ich auf dem Gebiet der Kultur. »Hast du Herrn Pfifferling gesehen?«, sollten wir singen. Die Frage konnte ich mit einem glatten Nein beantworten. Und Frau Pfifferling auch nicht, und auch sonst keine Verwandten von ihm.
Manchmal bekamen wir ein Heft von der Sparkasse, geschmückt mit einer betagten Eiche. Wenn man Geld sparte, wuchs es und wurde ebenso groß wie der Baum, so wurde uns gesagt. Aber um Pajala wuchs nirgends eine Eiche, deshalb war uns schnell klar, dass mit dieser Reklame etwas nicht stimmte. Das Gleiche galt für das Kreuzworträtsel in diesem Heft, in dem oft ein hoher, zypressenähnlicher Baum mit neun Buchstaben vorkam. Richtige Antwort: Wacholder. Obwohl doch der Wacholder bei uns nie so aussah, sondern nur ein spärlicher, wilder Busch in Kniehöhe war.
Die Musikstunden waren ein Ritual für sich. Die Lehrerin stellte ein plumpes Tonbandgerät auf das Pult, eine riesige Kiste mit Tasten und Drehknöpfen, legte vorsichtig ein Band ein und verteilte die Liederbücher. Dann spähte sie mit ihren Eulenaugen über die Klasse und schaltete den Strom ein. Die Spulen begannen den Magnetriemen zu drehen, und aus den Lautsprechern ertönte ein keckes Erkennungssignal. Anschließend war eine schnelle Frauenstimme mit Stockholmer Akzent zu hören. Mit eifrigen Rufen leitete sie die perfekten Musiklektionen! Die Schüler stammten aus der Nacka Musikskola, und noch heute weiß ich nicht, warum wir zuhören mussten, wie diese Südländer mit ihren klaren Engelsstimmen von Gänseblümchen und Schlüsselblumen und anderen tropischen Gewächsen sangen. Manchmal sang einer der Nacka-Schüler solo, und das Schlimmste war, dass einer der Jungen den gleichen Namen hatte wie ich.
»Mattias, sei so gut und wiederhole noch einmal die Melodiestimme«, zwitscherte die Dame, und ein mädchenähnlicher Jungssopran stimmte mit glockenklarer Stimme ein. Dann drehte sich die ganze Klasse um, starrte mich an und kicherte unter lautem, verächtlichem Schnauben. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.
Nach einigen pädagogischen Durchgängen sollten wir gemeinsam mit dem Band, dem Hesa-Fredrik-Ensemble und den Wiener Sängerknaben singen. In den Augen der Lehrerin erschien ein gefährliches Glitzern, und die Mädchen begannen leise wie der Wind in einer Gräserwiese zu summen. Aber wir Jungs saßen stumm wie die Fische da, und als der Radar der Lehrerin über uns hinwegfegte, bewegten wir die Lippen, mehr aber auf keinen Fall. Es war unmännlich zu singen. Knapsu. Also schwiegen wir.
Mit der Zeit wurde uns klar, dass unsere Heimat eigentlich gar nicht zu Schweden gehörte. Wir waren sozusagen nur aus Zufall dazugekommen. Ein nördlicher Anhang, ein paar öde Sumpfgebiete, in denen kaum Menschen lebten, die es kaum schafften, Schweden zu sein. Wir waren anders, ein bisschen unterlegen, ein bisschen ungebildet, ein bisschen arm im Geist. Wir hatten keine Rehe oder Igel oder Nachtigallen. Wir hatten keine Berühmtheiten. Wir hatten keine Achterbahnen, keine Verkehrsampeln, kein Schloss und keinen Herrensitz. Wir hatten nur unendlich viele Mücken, tornedal-finnische Flüche und Kommunisten.
Das war ein Aufwachsen im Mangel. Nicht in einem Mangel materieller Art, in der Beziehung hatten wir genug, um zurechtzukommen, sondern identitätsmäßig. Wir waren niemand. Unsere Eltern waren niemand. Unsere Vorväter hatten keinerlei Bedeutung für die schwedische Geschichte gehabt. Unsere Nachnamen konnten von den wenigen Referendaren, die aus dem richtigen Schweden zu uns kamen, nicht buchstabiert und schon gar nicht ausgesprochen werden. Keiner von uns traute sich, an »Upp
Weitere Kostenlose Bücher