Portrat in Sepia
sie die Schwester von Onkel Lucky, er ist ein
kurzbeiniger, großköpfiger Chinese, sieht recht gewöhnlich aus,
ist aber ein sehr guter Bursche. Ich ähnele mehr meinem Vater,
habe seinen spanischen Typ geerbt; von der Rasse meines
ungewöhnlichen Großvaters Tao Chi’en habe ich leider nur sehr
wenig mitgekriegt. Wenn die Erinnerung an diesen Großvater
nicht die klarste und dauerhafteste meines Lebens wäre, meine
älteste Liebe, an der alle Männer scheitern, die ich gekannt habe,
weil keiner von ihnen ihm gleichzukommen vermochte - ich
würde nicht glauben, daß ich chinesisches Blut in den Adern
habe. Tao Chi’en lebt immer in mir. Ich kann ihn vor mir sehen,
hochgewachsen, würdevoll, immer untadelig gekleidet,
grauhaarig, runde Brille und ein Blick voll grenzenloser Güte in
seinen mandelförmigen Augen. Wenn ich sein Bild
heraufbeschwöre, lächelt er immer, bisweilen höre ich ihn, wie
er mir auf chinesisch etwas vorsingt. Er umgibt mich, begleitet
mich, leitet mich, und das sollte, so wünschte er es von ihr, auch
meine Großmutter nach seinem Tode tun. Es gibt eine
Daguerreotypie von diesen beiden Großeltern aus der Zeit, als
sie noch jung und noch nicht miteinander verheiratet waren: Sie
sitzt auf einem Stuhl mit hoher Lehne, und er steht hinter ihr,
beide nach dem amerikanischen Brauch von damals gekleidet,
und sie blicken mit einem Hauch von Furcht frontal in die
Kamera. Dieses Bild, das ich endlich aufspüren konnte, steht auf
meinem Nachttisch und ist das Letzte, was ich jeden Abend
sehe, bevor ich das Licht lösche, aber ich hätte es gern in meiner
Kindheit bei mir gehabt, als ich die Gegenwart dieser beiden
Großeltern so nötig brauchte.
So weit ich zurückdenken kann, hat mich immer derselbe
Albtraum gequält. Die Bilder dieses hartnäckigen Traums
verfolgen mich dann Stunden hindurch und lasten auf meinem
Tag und auf meiner Seele. Es ist immer die gleiche Abfolge: Ich
gehe durch die leeren Straßen einer wildfremden Stadt an der
Hand von jemandem, dessen Gesicht ich niemals erkennen
kann, ich sehe nur die Beine und die Spitzen von glänzenden
Schuhen. Plötzlich sind wir von Wesen in schwarzen Pyjamas
umringt, die einen wilden Reigen tanzen. Ein dunkler Fleck,
Blut vielleicht, breitet sich auf den Pflastersteinen aus, während
der Ring der Tanzenden sich immer drohender um die Person
schließt, die mich an der Hand führt. Sie kreisen uns ein, stoßen
uns, zerren an uns, trennen uns; ich suche die befreundete Hand
und finde nur Leere. Ich schreie stimmlos, falle geräuschlos und
wache auf mit hämmerndem Herzen.
Manchmal bleibe ich tagelang stumm, die Erinnerung an den
Traum zehrt an mir, ich versuche, die Hüllen zu durchdringen,
die das Geheimnis umgeben, um womöglich eine bislang
unbemerkte Einzelheit zu entdecken, die mir den Schlüssel zu
seiner Bedeutung liefert. An diesen Tagen schüttelt mich ein
kaltes Fieber, mein Körper verschließt sich, mein Geist ist in
einem eisigen Raum gefangen.
In diesem Zustand der Lähmung befand ich mich während der
ersten Wochen im Hause Paulina del Valles. Ich war fünf Jahre
alt, als sie mich zum Palais auf Nob Hill brachten, und niemand
hatte sich die Mühe gemacht, mir zu erklären, weshalb mein
Leben plötzlich eine so dramatische Wende nahm, wo meine
Großeltern Eliza und Tao waren, wer diese riesige, mit Juwelen
behangene Dame war, die mich mit Tränen in den Augen von
einem Thron aus beobachtete. Ich kroch so schnell ich konnte
unter einen Tisch, und da blieb ich hocken wie ein geprügelter
Hund, wie sie mir später erzählten. Zu jener Zeit war Williams
der Butler der Rodriguez de Santa Cruz
- wirklich schwer
vorstellbar -, und ihm fiel am Tag darauf die Lösung ein: Er
stellte das Essen für mich auf ein Tablett, an dem eine Schnur
befestigt war, daran zogen sie ganz langsam, und ich streckte
mich nach dem Tablett aus, als mein Hunger zu mächtig wurde,
bis sie mich aus meiner Zuflucht herausholen konnten, aber oft
genug, wenn ich mit meinem Albtraum erwachte, versteckte ich
mich wieder unter dem Tisch. Das passierte in dem Jahr, bevor
wir nach Chile gingen, aber in der Hektik der Reise und dem
folgenden Trubel, bis wir uns in Santiago eingerichtet hatten,
verlor sich diese Manie.
Mein Albtraum ist schwarz und weiß, still und hartnäckig,
und er ist dauerhaft. Ich nehme an, ich habe inzwischen genug
erfahren, um die Schlüssel zu seiner Bedeutung zu kennen, aber
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