Portrat in Sepia
Geschäfte
handhabte. Entgegen dem Mißtrauen der Uniformierten und zur
Überraschung der ganzen Welt führte er die Truppen
geradenwegs Richtung Lima. Wie seine Nichte Nivea sagte:
»Der Krieg ist eine zu ernste Angelegenheit, als daß man ihn
den Militärs überlassen könnte.« Der Satz drang aus dem Schoß
der Familie nach außen und wurde zu einem jener lapidaren
Sprüche, die später zum historischen Anekdotenschatz eines
Landes gehören. So kurze Zeit Severo in den Reihen des Heeres
mitkämpfte, hatte er in Dreck und Blut und erbarmungsloser
Barbarei doch schon viel sehen und erleben müssen. Inzwischen
war die Erinnerung an Lynn in Fetzen gegangen, er träumte
nicht mehr von ihr, sondern von den verstümmelten Leibern der
Männer, mit denen er am Tag zuvor das Feldlager geteilt hatte.
Der Krieg war zumeist Gewaltmarsch und Geduld gewesen,
gelegentliche Gefechte wirkten fast als Erleichterung gegenüber
den langweiligen Zeiten, in denen man sich einsatzbereit zu
halten und zu warten hatte. Wenn er sich einmal hinsetzen und
eine Zigarette rauchen konnte, nutzte er das aus, um ein paar
Zeilen an Nivea zu schreiben, in demselben
kameradschaftlichen Ton, den er ihr gegenüber immer anschlug.
Er sprach nicht von Liebe, aber nach und nach begann er zu
begreifen, daß sie die einzige Frau in seinem Leben sein würde
und daß Lynn nur ein langwährendes Traumbild gewesen war.
Nivea schrieb ihm regelmäßig, wenn auch nicht alle ihre Briefe
ihr Ziel erreichten, und erzählte ihm von der Familie, vom
Leben in der Stadt, von ihren Begegnungen mit Onkel José
Francisco und von den Büchern, die er ihr empfahl. Sie erklärte
ihm auch die geistige Wandlung, die sie bewegte: wieso sie sich
von einigen katholischen Riten losgesagt hatte, in denen sie
Anzeichen von Heidentum zu erkennen glaubte, und daß sie die
Wurzeln eines eher philosophischen als dogmatischen
Christentums suchte. Sie machte sich Sorgen, daß Severo, in
einer rohen, grausamen Welt gefangen, die Bindung an seine
Seele verlieren und sich in einen Unbekannten verwandeln
könnte. Der Gedanke, daß er verpflichtet war zu töten, war ihr
unerträglich. Sie versuchte, nic ht daran zu denken, aber die
Berichte über niedergemetzelte Soldaten, enthauptete Leichen,
vergewaltigte Frauen und auf Bajonette gespießte Kinder konnte
man nicht einfach beiseite schieben. Nahm Severo etwa teil an
diesen Greueltaten? Würde ein Mann, der Zeuge solcher
Geschehnisse gewesen war, sich je wieder in den Frieden
einleben, Ehemann und Familienvater werden können? Severo
stellte sich die gleichen Fragen, während sein Regiment nur
noch wenige Kilometer von der peruanischen Hauptstadt
entfernt war. Gegen Ende des Jahres bereiteten die Chilenen den
Sturm vor, und nun richtete sich das chilenische
Truppenkontingent zum Angriff in einem Tal südlich von Lima.
Sie waren gründlich vorbereitet, verfügten über ein zahlreiches
Heer, über Maulesel und Pferde, Munition, Lebensmittel und
Wasser, mehrere Segelschiffe zum Transport der Truppen,
außerdem über vier Feldlazarette mit sechshundert Betten und
zwei unter der Fahne des Roten Kreuzes fahrende
Lazarettschiffe. Einer der Kommandanten kam in einem
Fußmarsch mit seiner vollständigen Brigade, nachdem sie
unzählige Sümpfe und Berge überquert hatten, und erschien wie
ein Mongolenfürst mit einem Gefolge von
eintausendfünfhundert Chinesen samt ihren Frauen, Kindern und
Tieren. Als Severo sie erblickte, glaubte er Opfer einer
Halluzination zu sein, in der ganz Chinatown San Francisco
verlassen hatte, um im selben Krieg wie er umzukommen. Der
bemerkenswerte Kommandant hatte die Chinesen unterwegs
rekrutiert, es waren Einwanderer, die unter sklavenhaften
Bedingungen arbeiteten und die, zwischen zwei Feuern
eingeklemmt und an keine der beiden Parteien gebunden, sich
an die chilenischen Streitkräfte angeschlossen hatten. Während
die Christen die Feldmesse hörten, bevor sie in den Kampf
gingen, hielten die Asiaten ihre eigene Zeremonie ab, und dann
besprengten die Militärgeistlichen alle zusammen mit
Weihwasser. »Der reinste Zirkus«, schrieb Severo an diesem
Tag an Nivea, nicht ahnend, daß dies sein letzter Brief sein
würde. Die Peruaner hatten wenige Kilometer vor der Stadt zwei
Verteidigungslinien aufgebaut, die für die Angreifer schwer zu
nehmen waren. Auf den steilen, sandigen Anhöhen waren
Festungswälle, Brustwehren, Geschützstände und für die
Schützen mit Sandsäcken
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