Portrat in Sepia
warf ihn
sich auf den Rücken und schleppte ihn hinaus. Draußen packten
andere hilfreiche Hände zu, und vierzig Minuten später,
während die chilenische Artillerie jenen einst friedlichen
Badeort mit Geschützfeuer belegte und Trümmer und
verbogenes Eisen hinterließ, wartete Severo im Hof des
Lazaretts neben Hunderten zerfetzter Leichen und Tausenden in
Blutlachen liegender, von Fliegen geplagter Verwundeter auf
den Tod oder auf ein Wunder, das ihn rettete. Die Schmerzen
und die Angst betäubten ihn, bisweilen versank er in gnädige
Ohnmacht, und wenn er erwachte, sah er den Himmel sich
schwarz färben. Auf die sengende Hitze des Tages folgte die
feuchte Kälte der camanchaca, die die Nacht in ihre dichte
Nebeldecke hüllte. In lichten Augenblicken erinnerte er sich der
in der Kindheit gelernten Gebete und flehte um einen raschen
Tod, worauf wie ein Bild ihm Nivea erschien, er glaubte sie zu
sehen, über ihn gebeugt, wie sie ihn stützte, ihm die Stirn mit
einem nassen Tuch abwischte, Liebesworte zu ihm sagte. Immer
wieder rief er ohne Stimme ihren Namen und bat um ein Glas
Wasser.
Die Schlacht um Lima endete um sechs Uhr abends. Als an
den darauffolgenden Tagen berechnet werden konnte, wie viele
Tote und Verwundete es gegeben hatte, kam man auf ein Fünftel
der Soldaten beider Heere, die in diesen Stunden getötet worden
waren. Viele mehr starben später an den Folgen ihrer infizierten
Verwundungen. Feldlazarette und Verbandsplätze wurden
provisorisch in einer Schule und in ringsum verstreuten Zelten
eingerichtet. Der Wind trug den Gestank kilometerweit. Die
erschöpften Ärzte und Sanitäter versorgten alle so gut es ihnen
möglich war, aber es gab über zweitausendfünfhundert
Verwundete in den chilenischen Truppen, und man schätzte über
siebentausend unter den Überlebenden der peruanischen
Einheiten. Die Verwundeten lagen dicht gedrängt in den Gängen
und den Höfen, bis sie an der Reihe waren. Die schwersten Fälle
wurden zuerst behandelt, und Severo lag noch nicht im Sterben,
trotz des ungeheuren Verlustes an Kraft, Blut und Hoffnung,
weshalb die Krankenträger ihn immer wieder liegenließen, um
andere vorzuziehen. Derselbe Soldat, der ihn auf dem Rücken
zum Lazarett geschleppt hatte, schlitzte ihm mit dem Messer
den Stiefel auf, zog ihm das klatschnasse Hemd aus und
benutzte es als behelfsmäßigen Tampon für den zerschlagenen
Fuß, weil es weder Verbandszeug noch Medikamente, noch
Desinfektionsmittel, noch Opium, noch Chloroform gab, alles
war aufgebraucht oder war im Wirrwarr des Kampfes
verlorengegangen. »Lockern Sie die Aderpresse von Zeit zu
Zeit, Leutnant, damit Sie keinen Brand im Bein kriegen«, riet
ihm der Soldat. Bevor er sich verabschiedete, wünschte er ihm
noch Glück und schenkte ihm seine kostbarsten Besitztümer: ein
Päckchen Tabak und seine Feldflasche mit dem restlichen
Alkohol. Severo wußte nicht, wie lange er schon in diesem Hof
lag, vielleicht einen Tag, vielleicht auch zwei. Als sie ihn
endlich aufhoben, um ihn zum Arzt zu bringen, war er
bewußtlos und völlig ausgetrocknet, aber durch die Bewegung
wurde der Schmerz so grausam, daß er mit einem Aufheulen zu
sich kam. »Warten Sie ab, Leutnant, noch haben Sie das
Schlimmste vor sich«, sagte einer der Träger. Dann befand er
sich in einem großen Saal, dessen Boden mit Sand bedeckt war,
auf den zwei Ordonnanzen immer neue Eimer voll Sand leerten,
um das Blut aufzusaugen; in denselben Eimern trugen sie dann
die amputierten Gliedmaßen hinaus, um sie draußen auf einem
riesigen Scheiterhaufen zu verbrennen, wodurch das Tal mit
dem Geruch nach versengtem Fleisch geschwängert war. Auf
vier mit Blech bedeckten Holztischen wurden die unglücklichen
Soldaten operiert, auf dem Boden standen Kübel mit
rotgefärbtem Wasser zum Ausdrücken der Schwämme, mit
denen das Blut aus den Wundschnitten gestillt wurde, Haufen
von in Streifen gerissenen Lappen la gen herum, die als
Verbände dienten, alle schmutzig und mit Sand und Sägemehl
gesprenkelt. Auf einem Seitentisch waren schreckliche
Folterinstrumente ausgebreitet
- Zangen, Scheren, Sägen,
Nadeln -, mit trockenem Blut befleckt. Die Schreie der
Operierten füllten den Raum, und der Gestank nach Fäulnis,
Erbrochenem und Kot war nicht zu atmen. Der Arzt war ein
Einwanderer vom Balkan, dem man die Härte, Sicherheit und
Schnelligkeit des erfahrenen Chirurgen ansah. Er hatte einen
Zweitagebart, die Augen waren vor Übermüdung
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