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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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können? Das Bild Niveas sprang
ihn aus seinen Grübeleien an. Seine Cousine würde nie
begreifen, wie er so lange zögern konnte, denn eines war sicher:
Wäre sie ein Mann, dann wäre sie als erste an die Front
gezogen. Nur gut, daß gar keine Zeit bliebe, ihr alles zu
erklären, bestimmt würde er von Kugeln durchsiebt sein, ehe er
sie wiedergesehen hatte; vor Nivea hinzutreten, nachdem er sich
ihr gegenüber so übel aufgeführt hatte, erforderte wesentlich
mehr Mut, als gegen den wütendsten Feind zu kämpfen. Das
Schiff schien überhaupt nicht voranzukommen, bei diesem
Tempo würde es Chile erreichen, wenn der Krieg vorbei war,
fürchtete er. Er war sicher, daß sein Land siegen werde, obwohl
es gleich mehrere Feinde hatte und trotz der arroganten
Unfähigkeit des chilenischen Oberkommandos. Der
Oberbefehlshaber des Heeres und der Admiral der Flotte waren
zwei alte Knaben, die es nicht schafften, sich über die
elementarste Strategie zu einigen, aber die Chilenen verfügten
über mehr militärische Disziplin als die Peruaner und die
Bolivianer. »Lynn mußte sterben, damit ich mich endlich
entschließe, nach Chile zurückzukehren und meine patriotische
Pflicht zu erfüllen, ich bin ein Lump, ein armseliger«, murmelte
er beschämt vor sich hin. Der Hafen von Valparaiso lag im
strahlenden Dezemberlicht, als das Dampfschiff in der Bucht
vor Anker ging. Beim Einfahren in die Territorialgewässer Perus
und Chiles hatten sie von fern Schiffe der Flotten beider Länder
beim Manövrieren ausmachen können, aber bevor sie in
Valparaiso anlegten, hatten sie vom Krieg noch nichts gesehen.
Das Bild des Hafens hatte sich sehr geändert gegenüber dem,
das Severo im Gedächtnis hatte. Die Stadt war militarisiert,
Truppen lagen im Quartier und warteten auf ihren Transport, die
chilenische Flagge flatterte an den Gebäuden, Boote und
Schlepper drängten sich um mehrere Schiffe der Kriegsflotte in
solcher Anzahl, daß die wenigen Landungsboote mit
Passagieren sich höchst spärlich ausnahmen. Severo hatte seiner
Mutter das Datum seiner Ankunft mitgeteilt, erwartete aber
nicht, sie am Hafen zu sehen, denn seit etwa zwei Jahren lebte
sie in Santiago bei ihren jüngeren Kindern, und die Reise von
der Hauptstadt hierher wäre zu anstrengend für sie gewesen.
Deshalb machte er sich nicht die Mühe, den Kai nach bekannten
Gesichtern abzusuchen, wie es die meisten anderen
Mitpassagiere taten. Er ergriff seine Reisetasche, gab einem
Matrosen ein paar Münzen, damit der sich seine Koffer auflud,
ging den Laufsteg hinab und atmete in tiefen Zügen die salzige
Luft der Stadt ein, in der er geboren war. Als er festen Boden
betrat, taumelte er erst einmal wie ein Betrunkener, denn
während der Wochen auf See hatte sich sein Gang dem Auf und
Ab der Wellen angepaßt. Er pfiff nach einem Lastträger, damit
der ihm mit seinem Gepäck behilflich war, und wollte nun nach
einer Kutsche sehen, die ihn zum Haus seiner Großmutter
Emilia bringen sollte, bei der er zwei, drei Nächte zu bleiben
gedachte, bevor er seinen Dienst beim Heer antreten würde. In
diesem Augenblick berührte jemand seinen Arm. Überrascht
drehte er sich um und sah sich Auge in Auge dem letzten
Menschen auf dieser Welt gegenüber, den zu sehen er
gewünscht hätte: seiner Cousine Nivea. Er brauchte einige
Sekunden, um sie zu erkennen und sich von dem Eindruck zu
erholen. Das Mädchen, das er vor vier Jahren verlassen hatte,
war in eine unbekannte Frau verwandelt: Sie war immer noch
klein, aber viel schlanker, und ihr Körper war wohlgeformt. Das
einzige, was sich nicht verändert hatte, war der intelligente und
gesammelte Ausdruck ihres Gesichts. Sie trug ein Sommerkleid
aus blauem Taft und einen Strohhut mit einer großen Schleife
aus weißem Organdy, die unter dem Kinn zusammengebunden
war und ihr ovales Gesicht betonte, in dem die schwarzen
Augen unruhig und ein wenig spöttisch glänzten. Sie war allein.
Severo gelang es nicht, sie zu begrüßen, er stand nur da und
starrte sie mit offenem Mund an, bis er endlich zu sich kam und
sie verlegen fragen konnte, ob sie seinen letzten Brief erhalten
habe. Das war der, in dem er ihr seine Heirat mit Lynn
angekündigt hatte. Da er ihr seither nicht mehr geschrieben
hatte, nahm er an, daß sie von Lynns Tod oder Auroras Geburt
nichts wußte, Nivea konnte nicht ahnen, daß er inzwischen
Witwer und Vater geworden war, ohne je eine Ehe geführt zu
haben. »Darüber sprechen wir später,

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