Portrat in Sepia
dem
Frontalangriff der chilenischen Kavallerie ausgesetzt waren. In
wenigen Minuten war da unten die Hölle los. Severo, der die
Anhöhe hinablief, sah die Säbel in der Luft blitzen und hörte die
Schüsse und die Schmerzensschreie. Als er die Hazienda
erreichte, rannten die Feinde scho n davon, erneut verfolgt von
den chilenischen Truppen. In diesem Augenblick hörte er die
Stimme seines Kommandeurs, der ihn anwies, die Männer
seiner Abteilung zu sammeln und den Badeort anzugreifen. Die
kurze Frist, während die Reihen sich schlossen, verschaffte ihm
eine Atempause; er ließ sich fallen und preßte die Stirn gegen
den Boden, keuchend, zitternd, die Hände um die Waffe
gekrampft. Er hielt das weitere Vorrücken für Wahnsinn, sein
Regiment allein würde den zahlreichen in den Wohnhäusern und
sonstigen Gebäuden verbarrikadierten feindlichen Kräften nicht
gewachsen sein, sie würden sich von Tür zu Tür schlagen
müssen; aber es war nicht seine Aufgabe, zu denken, er hatte
dem Befehl seines Vorgesetzten zu folgen und den peruanischen
Ort in Schutt und Asche zu legen. Minuten später trabte er an
der Spitze seiner Kameraden weiter, während die Geschosse an
ihm vorbeipfiffen. Als sie die Hauptstraße erreichten, teilten sie
sich in zwei Reihen, für jede Seite eine. Bei dem Ruf »Die
Chilenen kommen« war der größte Teil der Einwohner geflohen,
aber diejenigen, die blieben, waren entschlossen, mit allem zu
kämpfen, was sie bei der Hand hatten, von Küchenmessern bis
zu Kochtöpfen mit brennendem Öl, die sie von oben
herabwarfen. Severos Regiment hatte Befehl, von Haus zu Haus
zu gehen, bis der Ort entvölkert war, eine keineswegs leichte
Aufgabe, er war noch voll von peruanischen Soldaten, die sich
überall verschanzt hatten: auf den Dächern, in den Bäumen, an
den Fenstern, hinter den Türen. Severos Kehle war wie
ausgetrocknet, seine Augen brannten, er konnte keine drei Meter
weit sehen, die Luft, dick von Rauch und Pulverdampf, war
kaum noch zu atmen, es herrschte eine solche Wirrnis, daß
keiner mehr wußte, was er tun sollte, er ahmte nur nach, was der
Mann vor ihm tat. Plötzlich ging um Severo herum ein
Hagelschauer von Kugeln nieder, und er begriff, daß er nicht
weiter vorwärts konnte, er mußte Schutz suchen. Mit einem
Kolbenstoß öffnete er die nächste Tür und brach
säbelschwingend in das Wohnhaus ein, blind tappend in dem
drinnen herrschenden Halbdunkel. Er brauchte ein wenig Zeit,
um sein Gewehr neu zu laden, aber die war ihm nicht vergönnt:
ein gellendes Kreischen lähmte ihn, und er erkannte undeutlich
eine Gestalt, die in einem Winkel gekauert hatte und nun, eine
Axt schwingend, auf ihn zusprang. Er konnte eben noch mit den
Armen seinen Kopf schützen und mit dem Körper
zurückweichen. Die Axt zackte wie ein Blitz in seinen linken
Fuß und nagelte ihn am Boden fest. Severo begriff nicht, was
geschehen war, er handelte aus reinem Instinkt. Mit dem ganzen
Gewicht seines Körpers stieß er mit dem Gewehr zu,
durchbohrte mit dem aufgepflanzten Bajonett den Leib seines
Angreifers und hob ihn mit brutaler Gewalt in die Höhe. Ein
Blutstrom schoß ihm ins Gesicht. Und dann erkannte er, daß
sein Feind ein Mädchen war. Er hatte sie förmlich aufgeschlitzt,
und sie, nun auf den Knien, versuchte die Eingeweide
festzuhalten, die auf den Holzboden fielen. Beider Augen trafen
sich in einem endlosen Blick, befremdet, fragend in dem ewigen
Schweigen dieses Augenblicks, wer sie waren, weshalb sie sich
befeindeten, weshalb sie sich hinschlachteten, weshalb sie
sterben mußten. Severo wollte sie stützen, aber er konnte sich
nicht bewegen und fühlte zum erstenmal den schrecklichen
Schmerz, der von dem Fuß wie eine Feuerzunge durch das Bein
hochschoß bis in die Brust. In diesem Augenblick drang ein
chilenischer Soldat in das Haus ein, erkannte sofort die
Situation, und ohne zu zögern, erschoß er das bereits sterbende
Mädchen, ergriff dann die Axt und befreite Severo mit einem
ungeheuren Ruck. »Kommen Sie, Leutnant, wir müssen hier
weg, die Artillerie wird gleich mit dem Beschuß anfangen«,
warnte er, aber Severo, dem jetzt das Blut aus der Wunde
sprudelte, verlor das Bewußtsein, kam für einige Sekunden zu
sich, und dann umgab ihn wieder Dunkelheit. Der Soldat setzte
ihm seine Feldflasche an den Mund und zwang ihn, einen langen
Zug Alkohol zu trinken, dann band er ihm ein Taschentuch als
improvisierte Aderpresse unter dem Knie um das Bein,
Weitere Kostenlose Bücher