Portrat in Sepia
Erdrückendes, was der September mit seinem
herrlichen Frühling nicht verscheuchen konnte. Die Tausende
von Toten, die Verrätereien und die Plünderungen lasteten auf
den Seelen der Sieger ebenso wie auf denen der Verlierer. Wir
schämten uns: der Bürgerkrieg war eine Blutorgie gewesen.
Es war ein seltsamer Abschnitt in meinem Leben, mein
Körper veränderte sich, meine Seele weitete sich, und ich
begann mich ernsthaft zu fragen, wer ich war und woher ich
kam. Der Auslöser war die Ankunft von Matías Rodríguez de
Santa Cruz, meinem Vater, wenn ich auch noch nicht wußte, daß
er das war. Ich empfing ihn als den Onkel Matías, als den ich ihn
Jahre zuvor in Europa kennengelernt hatte. Schon damals war er
mir sehr zerbrechlich vorgekommen, aber als ich ihn jetzt sah,
erkannte ich ihn nicht wieder, er war nur noch ein kümmerlicher
magerer Spatz in seinem Rollstuhl. Ihn begleitete eine schöne,
reife Frau, üppig, milchweiße Haut, sie trug ein einfaches
senffarbenes Popelinkleid und einen ausgebleichten Schal um
die Schultern, aber ihr hervorstechendstes Merkmal war eine
widerspenstige Mähne krauser grauer Haare, die im Nacken mit
einer schmalen Schleife zusammengehalten wurden. Sie sah aus
wie eine skandinavische Königin im Exil, man konnte sie sich
leicht am Heck eines zwischen Eisschollen rudernden
Wikingerschiffes vorstellen.
Paulina erhielt ein Telegramm mit der Nachricht, daß ihr
ältester Sohn in Valparaiso an Land gehen werde, und trat sofort
in Aktion, um sich mit mir, Onkel Frederick und dem üblichen
Gefolge in die Hafenstadt zu begeben. Wir fuhren in einem
Sonderwagen, den uns der englische Eisenbahndirektor zur
Verfügung stellte. Er war mit glänzendem Holz verkleidet, die
Nieten waren aus polierter Bronze, die Sitze mit stierblutrotem
Samt bezogen, betreut wurden wir von zwei Angestellten in
Uniform, die uns bedienten, als wären wir königliche Hoheiten.
Wir stiegen in einem Hotel am Meer ab und warteten auf das
Schiff, das am Tag darauf eintreffen sollte. Dazu stellten wir uns
am Kai ein, so elegant, als sollten wir an einer Hochzeit
teilnehmen; ich kann das so dreist behaupten, weil ich ein Foto
besitze, das aufgenommen wurde, kurz bevor das Schiff anlegte.
Paulina in heller Seide mit vielen Volants und Perlencolliers
trägt einen riesigen Hut mit breiten Flügeln, gekrönt von einem
Haufen Federn, die ihr kaskadenartig in die Stirn fallen, dazu hat
sie einen Sonnenschirm aufgespannt als Schutz vor dem grellen
Licht. Ihr Mann Frederick Williams ansehnlich wie immer im
schwarzen Anzug, Hut mit Krempe und Spazierstöckchen; ich
bin ganz in Weiß mit einer Organdyschleife auf dem Kopf wie
ein Geburtstagspäckchen. Der Laufsteg wurde vom Schiff
herübergeschoben, und der Kapitän persönlich lud uns ein, an
Bord zu kommen, und geleitete uns höchst zeremoniös zu der
Kabine von Don Matías Rodríguez de Santa Cruz.
Das Letzte, was meine Großmutter erwartet hatte, war, sich
Amanda Lowell auf Armeslänge gegenüber zu finden. Sie so
überraschend vor sich zu sehen verärgerte sie aufs äußerste; die
Anwesenheit ihrer alten Feindin beeindruckte sie viel stärker als
das beklagenswerte Aussehen ihres Sohnes. Natürlich wußte ich
zu jener Zeit noch nicht, worum es ging, um die Reaktion
meiner Großmutter deuten zu können, ich glaubte, die Hitze
setze ihr zu. Dem phlegmatischen Frederick Williams dage gen
stellte sich nicht ein Härchen auf, als er die Lowell sah, er
begrüßte sie mit einer kurzen, aber liebenswürdigen Geste, und
dann widmete er sich meiner Großmutter, half ihr in einen
Sessel und gab ihr Wasser zu trinken, während Matías der Szene
eher amüsiert zusah.
»Was tut diese Frau hier!« stammelte Paulina, als sie wieder
atmen konnte.
»Ich nehme an, Sie wollen sich im Familienkreis unterhalten,
ich gehe ein wenig Luft schnappen«, sagte die Wikingerkönigin
und ging mit ungebrochener Würde hinaus.
»Señorita Lowell ist meine Freundin, sagen wir, sie ist meine
einzige Freundin, Mutter. Sie hat mich hierher begleitet, ohne
sie hätte ich nicht reisen können. Sie war es, die darauf bestand,
daß ich nach Chile heimkehren sollte, sie findet, es ist besser für
mich, im Kreis der Familie zu sterben, als in einem
Krankenhaus in Paris«, sagte Matías in einem etwas
befremdlichen Spanisch mit frankoenglischem Akzent.
Nun sah Paulina ihn zum erstenmal richtig an und mußte
feststellen, daß von ihrem Sohn nur noch ein mit
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