Portrat in Sepia
zum Symbol für Freiheit und
Demokratie werden, geachtet selbst von seinen erbittertsten
Feinden. Wie meine Großmutter sagte: Chile ist ein Land mit
schlechtem Gedächtnis. In den wenigen Monaten, die die
Revolution gedauert hatte, waren mehr Chilenen gestorben als in
den vier Jahren des Salpeterkriegs.
Mitten in dem ganzen Durcheinander erschien Severo del
Valle in unserem Haus, bärtig und ungewaschen, auf der Suche
nach seiner Frau, die er seit Januar nicht gesehen hatte. Er
erlebte eine Riesenüberraschung, als er sie mit zwei Kindern
mehr vorfand, denn im Trubel der Revolution hatte sie ganz
vergessen, ihm zu sagen, daß sie schwanger war, als er fortging.
Die Zwillinge strotzten vor Gesundheit, und in zwei, drei
Wochen hatten sie ein mehr oder weniger menschliches
Aussehen bekommen und waren nicht länger die runzligen
blauen Würmchen wie bei ihrer Geburt. Nivea sprang ihrem
Mann an den Hals, und dann durfte ich zum erstenmal in
meinem Leben einen langen Kuß auf den Mund mit ansehen.
Meine etwas verwirrte Großmutter wollte mich ablenken, aber
das gelang ihr nicht, und ich erinnere mich noch heute an die
ungeheure Wirkung, die dieser Kuß auf mich hatte; er
bezeichnete den Beginn der vulkanhaften Veränderung in der
Pubertät. In wenigen Monaten wurde ich mir eine Fremde, ich
erkannte das in sich versunkene Mädchen nicht wieder, in das
ich mich verwandelte, ich fühlte mich gefangen in einem
rebellischen, fordernden Körper, der wuchs und sich festigte, litt
und zuckte. Mir schien, als wäre ich nur eine Ausdehnung
meines Bauches, dieser Höhle, die ich mir als blutige Kaverne
vorstellte, in der Körpersäfte gärten und eine fremde,
erschreckende Flora sich entwickelte. Ich konnte die
unglaubliche Szene nicht vergessen, als Nivea im Licht der
Kerzen hockend gebar, den Anblick ihres riesigen, von dem
vorstehenden Nabel gekrönten Bauches, ihrer schlanken, an die
von der Decke herabhängenden Seile gefesselten Arme. Ich
konnte ohne jeden erkennbaren Grund plötzlich laut losweinen,
ebenso plötzlich in unbezähmbarer Wut mit den Füßen
aufstampfen, oder ich erwachte morgens so müde, daß ich nicht
aufstehen mochte. Die Träume von den Wesen in schwarzen
Pyjamas kehrten häufiger und eindringlicher wieder; ich träumte
auch von einem sanften, nach Meer duftenden Mann, der mich
in seine Arme schloß, ich erwachte, das Kopfkissen
umklammernd, und wünschte verzweifelt, jemand sollte mich
küssen, wie Severo seine Frau geküßt hatte. Außen flog ich vor
Hitze, und innen gefror ich, mir fehlte die Ruhe, zu lesen oder
zu lernen, ich rannte durch den Garten, drehte dort Runden wie
eine Besessene, um die Lust zu heulen zu unterdrücken, ich
stieg in Kleidern in den Teich, trat auf die Seerosen und
erschreckte die Goldfische, den Stolz meiner Großmutter. Bald
entdeckte ich die sensibelsten Punkte meines Körpers und
streichelte mich im verborgenen, ohne zu begreifen, wieso das,
was doch Sünde sein mußte, mich beruhigte. Ich werde
bestimmt verrückt wie so viele Mädchen, die am Ende
hysterisch sind, schloß ich entsetzt, aber ich wagte nicht, mit
meiner Großmutter darüber zu sprechen. Auch Paulina hatte sich
verändert, während mein Körper aufblühte, vertrocknete der
ihre, von geheimnisvollen Leiden heimgesucht, die sie
niemandem anvertraute, nicht einmal dem Arzt, getreu ihrer
Grundregel, es genüge, gerade zu gehen und keine
Altweibergeräusche zu machen, um die Hinfälligkeit
fernzuhalten. Die Fettleibigkeit machte ihr zu schaffen, sie hatte
Krampfadern an den Beinen, die Knochen taten ihr weh, sie war
kurzatmig und urinierte tröpfchenweise, alles Plagen, die ich aus
kleinen Anzeichen erriet, die sie aber strikt geheimhielt.
Señorita Pineda hätte mir in meiner Pubertätskrise viel helfen
können, aber sie war aus meinem Leben völlig verschwunden,
ausgestoßen von meiner Großmutter. Auch Nivea zog aus mit
ihrem Mann, ihren Kindern und Kindermädchen, so sorglos und
fröhlich, wie sie gekommen war, und hinterließ eine
schreckliche Leere im Haus. Es gab zu viele Räume, und es
fehlte der Lärm; ohne sie und die Kinder war das schöne große
Haus ein Mausoleum.
Santiago feierte den Sturz der Regierung mit einer
unendlichen Folge von Paraden, Festen, Bällen und Banketts;
meine Großmutter wollte nicht zurückstehen, sie öffnete ihr
Haus und versuchte, ihr vorheriges Leben und ihre
Abendgesellschaften wiederaufzunehmen, aber das allgemeine
Klima hatte etwas
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