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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Streichquartett
verpflichtet, das mehrmals in der Woche kam und seine
Lieblingsklassiker spielte, aber nichts konnte den
Medizingeruch vertreiben noch die Gewißheit, daß in diesem
Raum jemand starb. Anfangs hatte dieser lebende Leichnam
mich abgestoßen, aber als es mir gelang, mein Grauen zu
besiegen, und meine Großmutter mich mehr oder weniger
zwang, ihn zu besuchen, veränderte sich mein Leben. Matías
Rodríguez de Santa Cruz war genau um die Zeit nach Hause
gekommen, als ich aus meiner ersten Pubertät erwachte, und er
gab mir das, was ich am meisten brauchte: Erinnerung. In einer
der Stunden, in denen er voll bei Verstand war, erzählte er mir,
daß er mein Vater sei, und die Enthüllung kam so beiläufig, daß
sie mich nicht einmal überraschte.
    »Lynn Sommers, deine Mutter, war die schönste Frau, die ich
je gesehen habe. Ich bin froh, daß du ihre Schönheit nicht geerbt
hast«, sagte er. »Warum, Onkel?«
    »Sag nicht Onkel zu mir, Aurora. Ich bin dein Vater. Die
Schönheit ist ein Fluch, der die schlimmsten Leidenschaften in
den Männern weckt. Eine allzu schöne Frau kann dem
Verlangen, das sie hervorruft, nicht entfliehen.«
    »Sind Sie wirklich mein Vater?«
»Gewiß.«
»Na so was! Ich dachte immer, mein Vater wäre Onkel
Severo.«
    »Severo hätte dein Vater sein sollen, er ist ein viel besserer
Mensch als ich. Deine Mutter hätte einen Mann wie ihn
verdient. Ich war immer ein verrückter Kerl, darum bin ich auch
das geworden, was du heute siehst, eine Vogelscheuche. Auf
jeden Fall kann er dir viel mehr über sie erzählen als ich«,
erklärte er. »Hat meine Mutter Sie geliebt?«
    »Ja, aber ich wußte nicht, was ich mit dieser Liebe anfangen
sollte, und bin ausgerissen. Du bist zu jung, um diese Dinge zu
verstehen, Tochter. Es genügt, wenn du weißt, daß deine Mutter
wunderbar war - ein Jammer, daß sie so früh sterben mußte.« Da
war ich einverstanden, ich hätte meine Mutter sehr gern
kennengelernt, aber noch neugieriger war ich auf andere
Menschen aus meiner frühesten Kinderzeit, die mir im Traum
erschienen oder in vagen Erinnerungsfetzen, die unmöglich
genau zu klären waren. In den Gesprächen mit meinem Vater
tauchte die Silhouette meines Großvaters Tao Chi’en auf, den
Matías nur einmal gesehen hatte. Es genügte, daß er seinen
vollständigen Namen nannte und sagte, er sei ein
hochgewachsener, gutaussehender Chinese gewesen, und meine
Erinnerungen kamen Tropfen um Tropfen, wie Regen. Als
dieses unsichtbare Wesen, das mich ständig begleitete, einen
Namen erhielt, war mein Großvater nicht länger eine Erfindung
meiner Phantasie, sondern verwandelte sich in eine Erscheinung
so wirklich wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich fühlte eine
unendliche Erleichterung, als ich erfuhr, daß dieser sanfte Mann
mit dem Meeresgeruch nicht nur tatsächlich gelebt, sondern
mich geliebt hatte, und daß er nicht so plötzlich verschwand,
weil er mich hätte verlassen wollen.
    »Soviel ich weiß, ist Tao Chi’en tot«, erklärte mir mein Vater.
»Woran ist er gestorben?«
»Ich glaube, es war ein Unfall, aber ich bin nicht sicher.«
»Und was ist mit meiner Großmutter Eliza Sommers?«
»Sie ging nach China. Sie glaubte, du seist in meiner Familie
    besser aufgehoben, und sie hat sich nicht geirrt. Meine Mutter
wollte immer gern eine Tochter haben, und sie hat dich mit viel
mehr Liebe aufgezogen, als sie meinen Brüdern und mir je
gegeben hat«, versicherte er mir. »Was bedeutet Lai-Ming?«
»Ich habe keine Ahnung, warum?«
    »Weil mir manchmal so ist, als hörte ich dieses Wort. Matías
war am ganzen Körper von der Krankheit mehr oder weniger
zerstört, er wurde sehr schnell müde, und es war nicht einfach,
ihm Informationen zu entlocken; er verlor sich in endlosen
Abschweifungen, die nichts mehr mit dem zu tun hatten, was
mich interessierte, aber nach und nach bekam ich die Flicken der
Vergangenheit zusammengenäht, Stich für Stich, und immer
hinter dem Rücken meiner Großmutter, die mir dankbar war,
daß ich den Kranken besuchte, denn ihr Mut reichte dafür nicht
aus; sie trat ein paarmal am Tag in das Zimmer ihres Sohnes,
gab ihm einen hastigen Kuß auf die Stirn und ging wieder
hinaus, stolpernd und die Augen voller Tränen. Nie fragte sie
mich, worüber wir sprachen, und ich sagte es ihr natürlich nicht.
Ich getraute mich auch nicht, das Thema vor Severo und Nivea
anzuschneiden, ich hatte Angst, daß die geringste
Unvorsichtigkeit

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