Portrat in Sepia
Ejército Libertador hatte in den turbulenten
Revolutionsjahren viele Menschen beherbergt, aber nichts davon
war so verwirrend und aufregend für mich gewesen, wie es jetzt
die Ankunft meines Vaters war, der auf seinen Tod wartete. Die
politische Lage hatte sich seit dem Bürgerkrieg beruhigt, der
vielen Jahren liberaler Regierung ein Ende machte. Die
Revolutionäre erreichten die Änderungen, für die soviel Blut
geflossen war: Früher hatte die Regierung ihren Kandidaten mit
Bestechung und Einschüchterung durchgesetzt, unterstützt von
den zivilen und militärischen Behörden, jetzt bestachen sich
Oberklasse, Kirche und Parteien gegenseitig; das System war
gerechter, denn der von der einen Seite hielt sich an dem von der
anderen Seite schadlos, wodurch die Korruption nicht mit
öffentlichen Geldern bezahlt wurde. Das nannte sich Wahl. Die
Revolutionäre führten auch eine parlamentarische Staatsform
ein wie die in Großbritannien, aber sie sollte nicht allzulange
bestehen. »Wir sind die Engländer Amerikas«, sagte meine
Großmutter einmal, worauf Nivea augenblicklich erwiderte, die
Engländer seien die Chilenen Europas. Jedenfalls konnte das
parlamentarische Experiment nicht dauern auf einem Kontinent
von Caudillos; die Minister wechselten so häufig, daß es nicht
möglich war, ihren Weg zu verfolgen; zum Schluß verlor dieser
politische Veitstanz für alle in unserer Familie an Interesse,
ausgenommen Nivea, die, um die Aufmerksamkeit auf das
Frauenwahlrecht zu lenken, sich mit zwei, drei ebenso
begeisterten Damen an das Gitter des Kongresses anzuketten
pflegte, zur spöttischen Belustigung der Vorübergehenden,
während die Polizei tobte und die Ehemänner sich schämten.
»Sobald die Frauen wählen können, werden sie es einstimmig
tun. Wir werden so stark sein, daß wir die Waage der Macht
kippen und dieses Land verändern können.«
»Du irrst dich, Nivea, sie würden wählen, was der Ehemann
oder der Priester ihnen befiehlt, die Frauen sind viel dämlicher,
als du dir vorstellen kannst. Übrigens regieren ein paar von uns
hinterm Thron, und du siehst ja, wie wir die alte Regierung
gestürzt haben. Ich brauche kein Wahlrecht, um zu tun, was mir
paßt«, entgegnete meine Großmutter.
»Weil Sie reich und gebildet sind, Tante. Wie viele Frauen
gibt es denn, die sind wie Sie? Wir müssen um das Wahlrecht
kämpfen, das ist das erste.«
»Du hast den Kopf verloren, Nivea.«
»Noch nicht, Tante, noch nicht…« Mein Vater wurde im
Erdgeschoß untergebracht in einem zum Schlafzimmer
umgestalteten Salon, weil er die Treppen nicht steigen konnte,
und ihm wurde eine eigens für ihn bestimmte Pflegerin
beigegeben, die ihn Tag und Nacht betreuen sollte. Der Arzt der
Familie lieferte eine poetische Diagnose, »eingewurzelte
Blutturbulenz«, erzählte er meiner Großmutter, weil er ihr die
Wahrheit nicht gern ins Gesicht sagen wollte, aber ich nehme
an, für den Rest der Welt war es offensichtlich, daß mein Vater
von einer Geschlechtskrankheit aufgezehrt wurde. Er befand
sich in der letzten Phase, wenn schon keine Umschläge, Pflaster
oder Quecksilbereinreibungen mehr helfen können, die Phase,
die er sich auf jeden Fall hatte ersparen wollen, aber nun mußte
er sie erdulden, weil ihm der Mut gefehlt hatte, vorher
Selbstmord zu begehen, wie er es vor Jahren geplant hatte. Der
schmerzenden Knochen wegen konnte er sich kaum bewegen,
gehen schon gar nicht, und sein Denkvermögen wurde immer
schwächer. An manchen Tagen war er tief in Albträume
verstrickt, ohne daraus aufzuwachen, und murmelte nur
unverständliche Dinge, aber er hatte auch Augenblicke großer
Klarheit, und wenn das Morphium Schmerz und Angst betäubte,
konnte er lachen und sich erinnern. Dann rief er nach mir, daß
ich mich neben ihn setzte. Er verbrachte den Tag in einem
Sessel am Fenster und schaute auf den Garten, von dicken
Kissen gestützt und von Büchern, Zeitungen und Tabletts mit
Medikamenten umgeben. Die Pflegerin saß mit einem
Strickzeug in seiner Nähe, immer auf seine Bedürfnisse achtend,
schweigsam und abweisend wie ein Feind, die einzige, die er um
sich herum duldete, weil sie ihn nicht mit Rührung und Mitleid
plagte. Meine Großmutter hatte dafür gesorgt, daß die
Umgebung ihres Sohnes Fröhlichkeit atmete, sie hatte
Chintzvorhänge und in gelben Tönen gehaltene Tapeten
anbringen lassen, sie sorgte dafür, daß immer frischgeschnittene
Blumen auf den Tischen standen, und hatte ein
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