Poseidon - Der Tod ist Cool
von
Vivica Genaux
. Genüsslich nahm er das unvergleichliche Bouquet dieses Weines in sich auf, das sich zu einer sinnlichen Symbiose mit der Musik vereinigte.
Sein kümmerlicher, schwacher Leib wird mir gute Dienste leisten. Sehr gute Dienste. Nun ist es an der Zeit, den ersten Akt zu beenden. Doch schon bald wird sich der Vorhang wieder öffnen. Ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Geschichte dazu wurde längst geschrieben. Ich freue mich auf die Aufführung. Unter meiner Regie wird es keine Proben geben. Und keine Fehler. Dafür werde ich sorgen ...
34. Kapitel
Alle Trauergäste hatten mittlerweile den Friedhof verlassen.
Der Himmel öffnete sich und vergoss seine Tränen. Wie der Vorhang am Ende eines Theaterstückes legte sich der Regen auf Nowotnys Grab und spülte den letzten Rest Leben vom Sargdeckel. Die Blumenarrangements zerfielen langsam unter den schweren Tropfen und vereinigten sich mit dem Schlamm und Dreck der frisch ausgehobenen Grabstelle.
Als Frenzel zur letzten Ruhestätte seines ermordeten Freundes ging, um persönlich von ihm Abschied zu nehmen, entdeckte er, dass noch jemand am Grab stand. Er konnte die Person nicht klar erkennen, das Wasser schlug ihm hart ins Gesicht, ließ alles zu einem undefinierbaren grauen Schleier zusammenlaufen. Frenzel näherte sich Schritt für Schritt, die Konturen nahmen an Schärfe zu: Kleine Statur, leicht nach vorne gebeugt, abgestützt auf einen Spazierstock. Die Person hob unvermittelt den Kopf. Die Trauer in ihren Augen flutete sein Innerstes.
Alles Blut wich aus seinem Gesicht.
Der Mund ausgetrocknet. Die Zunge pelzig.
Die Stimmbänder zu einem dicken Knoten verschmolzen.
Frenzel schwindelte. Er sah sich in einem nicht enden wollenden Fall in Nowotnys Grab hinabstürzen, wartete vergebens auf den Aufschlag.
„Ja, ich bin es.“
Es dauerte einige Sekunden, bis sich sein Verstand an die Realität gearbeitet hatte.
„Mutter?!“
Nie zuvor in seinem Leben hatten sechs Buchstaben solch ein Gewicht, hatte ein Wort –
dieses Wort
– die Macht, tausend Fragen zu stellen. Aber hatte es auch die Kraft, sie zu beantworten?
„Warum...?“
Sie legte ihm schnell ihre Finger auf die Lippen.
Zitternd.
Nicht vor Kälte. Vor Verzweiflung. Das sah er in ihrem Gesicht.
„Sag jetzt nichts, mein Sohn“, flüsterte sie.
Ihre Stimme dünn und brüchig wie das erste Eis im Winter. Sie schluchzte.
„Ich habe lange genug geschwiegen. Es ist höchste Zeit, meine Schuld abzutragen.“
Sie sah ihren Sohn ängstlich an. Unsicher.
„Auch wenn es nun zu spät ist – für euch beide, für uns.“
Der Regen wurde stärker.
Frenzel ergriff ihre Hand und nahm sie von seinem Gesicht.
„Euch beide..., uns..., was willst du mir sagen, ich..., ich verstehe nicht...!“
Die Worte brachen aus ihm heraus.
Sie blickte ihm in die Augen und er spürte, wie sich ihre Finger fester um die seinen klammerten.
„Auch wenn wir nie über die Arbeit gesprochen haben, ich bin nicht nur hier, weil er dein Chef war. Michael ist..., war..., dein Bruder.“
Frenzel befreite sich aus ihrem Griff, trat einen Schritt zurück. Die ungeheuerliche Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu. Die kümmerlichen Reste Nowotnys lagen in dieser Holzkiste. Die Reste seines Bruders. In diesem Loch.
„Wieso hast du mir nie etwas davon gesagt? Wieso hast du mich belogen...?“
Mühsam durchdrangen Frenzels Gedanken das Chaos in seinem Hirn, formierten sich zu Sätzen. Er zitterte am ganzen Leib.
Vor Aufregung, Wut, Enttäuschung.
Vor Schmerz.
Unbeschreiblichem, lähmenden Schmerz.
„Ich konnte nicht. Hatte nie die Kraft dazu. Euer Vater ließ mich sitzen, schwanger, ohne Arbeit. So jung und unerfahren wie ich war. Ich...“
Frenzels Mutter schluchzte.
Normalerweise wäre ihm das Herz zerbrochen. Aber nicht jetzt. Ein Herz bricht nur einmal.
„...ich hatte Angst, unvorstellbare Angst. Ich spürte von Anfang an, dass zwei Kinder in meinem Bauch heranwuchsen. Ich wusste weder ein noch aus. Hatte niemanden, an den ich mich wenden sollte, ohne Freunde, Verwandte, fremd in der Stadt. Ein Kind konnte ich mir noch vorstellen, aber mit zweien fühlte ich mich völlig überfordert. Es bedeutete die doppelte Verantwortung.“
Frenzel bemerkte, wie viel Anstrengung es seine Mutter kostete, die Tür zu diesem Zimmer aufzustoßen. Alles Alte und Verstaubte darin hinauszuscheuchen. Luft und Licht hineinzulassen. Sie war all die Jahre Luft und Licht für ihn. Und nun diese grenzenlose
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