Poseidon - Der Tod ist Cool
Enttäuschung. Eine einzige Lüge betrat das Feld und spielte mit ihnen Schach.
Sie war seine Königin.
Bis heute.
Frenzel fühlte sich wie ein kleiner mickriger Bauer.
Benutzt. Verstoßen. Verbrannt.
„Wie konntest du nur all die Jahre so ein Schmierentheater aufführen?“, schrie er sie an. „Du hast immer gewusst, wie sehr ich mir einen Bruder gewünscht hatte. Ein Wort von dir hätte genügt! Ein einziges Wort!“
Seine Hände ballten sich zu Fäusten, alles in ihm verkrampfte sich. Frenzel hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten.
„Versteh mich, ich hatte nicht die Kraft. Es war schwierig genug mit einem Kind, all die Enttäuschungen und Opfer...“
„Opfer, Opfer, hör auf mit deinem Selbstmitleid.“, unterbrach er sie. „Was war mit mir – ich habe wohl keine Opfer gebracht!? Oder glaubst du, es machte mir Spaß, von allen herumgestoßen, gedemütigt zu werden?“
Noch nie hatte Frenzel mit seiner Mutter in diesem Ton gesprochen, der Frau, die er über alles liebte. Die ihm alles bedeutete. Der Klang seiner Stimme setzte dieses kostbare Gut in Schwingung und drohte es zu zerstören.
Ausgelaugt und leer stand sie vor ihm, hielt sich an ihrem Stock auf den Beinen. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Versuch bitte, mich zu verstehen. Mir hat es das Herz herausgerissen. So hatte ich wenigstens die Hoffnung, dass ihr beide gut versorgt seid. Ich gab dir immer alles, was ich hatte.“
Ein Heulkrampf durchfuhr sie.
Der Regen prasselte weiter auf beide ein. Die Pegel stiegen. Auch in Frenzel. Sintflutartig hämmerten ganze Legionen von Hass gegen seinen Schädel, bezogen Stellung. Er wehrte sich verzweifelt. Noch hielten die Dämme.
Frenzel sah ihr in die Augen.
„Wieso, Mutter, wieso? Wenigstens später, als wir erwachsen waren, auf eigenen Füßen standen. Wir haben all die Jahre zusammengearbeitet, waren gute Freunde. Mein einziger Freund. Vielleicht haben wir es gespürt! Vom Freund zum Bruder, es...“
Seine Stimme erstarb.
War tot.
Kalt. Wie Michael.
„Ich wollte eure Freundschaft nicht aufs Spiel setzten. Ich ...“
„Unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen?“ Frenzel lachte schallend. „Was für ein Witz. Eine lächerliche Ausrede!“, erwiderte er. Die Worte schmeckten nach Bitterkeit und Einsamkeit, bevor sie seinen Mund verließen. Er schüttelte den Kopf.
„Aber ich meinte es doch nur gut, wollte das Beste für uns Alle. Bitte, Peter, es tut mir Leid, verzeih mir!“
Der Satz schwebte an sein Ohr. Schwach. Zerbrechlich.
„Ich hatte es auch gut gemeint. Und dabei mein Auge verloren. Das war mein Geschenk an dich. Aber ich habe nicht nur das Auge verloren, sondern einen Bruder. Mein zweites ich. Du hast mir nicht mehr geschenkt, wie jede andere Mutter. Aber alles genommen.“
Frenzels Schmerz pflügte sich durch die Wassermassen, die unentwegt vom Himmel herabstürzten und legte sich wie ein Leichentuch um seine Mutter. Er drehte sich um, ließ sie stehen. Frenzel hörte sie etwas sagen. Rufen. Schreien. Weinen. Er ging wortlos weiter. Seine Dämme waren gebrochen und die Legionen bezogen Stellung. Er hatte eine Grenze überschritten und es gab kein zurück.
35. Kapitel
Höre in den Raum hinein.
Höre in den Raum hinein, dann erfährst du etwas über die Menschen, die sich darin aufgehalten haben.
Reiters Bewusstsein krallte sich an diesen Gedanken. Seine Wahrnehmung trieb zwischen Schmerz, Erschöpfung und Selbstaufgabe dahin.
Höre in den Raum hinein.
Die letzten Reserven mobilisierend konzentrierte er sich auf seine Umgebung.
Auf das Unmittelbare im Mittelbaren.
Die Geschichten der Stille.
Er schloss seine Augen, atmete die Vergangenheit des Kellergewölbes ein. Die Gesichter alter Bauern und Bäuerinnen schälten sich aus dem Schweigen, bis sie an der nächsten Woge aus Pein zerschellten, die über Reiter hereinbrach und seinen Widerstand weiter aushöhlte.
Die Qualen rissen ihm die Lider auf. Seine Augäpfel traten aus den Höhlen. Das grelle Licht der Neonröhren presste die Pupillen auf Stecknadelgröße zusammen. Reiters Herz klopfte wild und laut. Das Rauschen des Blutes in den Ohren schwoll zu einem Sturm an, der drohte, sein Trommelfell zu zerplatzen. Sein Körper bebte, krümmte sich.
Ein Kreischen zerschnitt die Luft.
Reiters Schrei regnete auf ihn selbst herab.
Betäubte ihn. Hüllte ihn in Lautlosigkeit. Eingebettet in die Erkenntnis, zu sterben, wich die Härte des Neonlichts einem warmen Schimmer, der sich langsam auf ihn
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