Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
hatte sie den ersten Brief bekommen. Er war aus Brasilien gewesen, von einer »Lotte Schreiner«. Ihre Eltern und auch Volkmar hatten keinen Verdacht geschöpft, aber sie hatte sofort gewusst, dass der Brief von ihm sein musste, sie hatte seine schöne Handschrift gleicherkannt. Ab diesem Zeitpunkt hatten sie einander geschrieben. Sie hatte immer gewusst, wo er war, und er, wie es ihr erging in ihrer schrecklichen Ehe.
»Mama? Bist du oben?«
Gudrun schrak zusammen. Rasch hängte sie das Hemd in den Besenschrank, so dass Annette es nicht sehen konnte. Gottlob hatte Harald sich hingelegt, Annette würde ihn also gar nicht zu Gesicht bekommen.
»Was willst du?«
Sie hörte, dass Annette die letzten Stufen der Treppe nahm und hätte am liebsten die Küchentür verschlossen, damit sie nicht mit ihr reden musste. Aber es war zu spät. Annette kam herein, sah ihrer Mutter kurz in die Augen und musterte dann die Küche. Zum Glück hatte Gudrun gerade abgespült, von einem zweiten Gedeck war nichts zu sehen.
»Wer ist der Mann im Keller?«
Gudrun schreckte zusammen. Um ein Haar hätte sie sich über die linke Hand gebügelt, die das Handtuch straff zog. »Wovon redest du? Hast du getrunken?«, antwortete sie schroff und hoffte, dass es ihr gelang, ihr Erschrecken zu verbergen.
Annette stand mit dem Rücken zur Küchentür. Gudrun konnte riechen, dass sie sich Mut angetrunken hatte, aber das interessierte sie in diesem Moment nicht. Vielmehr fragte sie sich, woher Annette Bescheid wusste. War sie in den Keller gegangen? Warum? Das tat sie nie. Außerdem achtete sie darauf, dass sie immer abgeschlossen hatte, den Schlüssel trug sie stets bei sich. Oder hatte Annette etwas gehört? Aber Gudrun hatte es mit Julius selbst ausprobiert, aus dem Keller drang kaum etwas nach draußen. Nur wenn die obersteBrandschutztür geöffnet war, konnte man gedämpfte Schreie vernehmen.
»Ich rede von dem Mann, den du im Keller gefangen hältst. Zusammen mit diesem Zahnarzt. Herr Klinger.«
Augenblicklich wusste Gudrun, was geschehen war: Beate hatte mit Annette gesprochen. »Das stimmt nicht.« Sie hatte ihre Selbstsicherheit zurückgewonnen und widmete sich wieder ganz ihrer Bügelarbeit. »Ich weiß nicht, wie du auf so etwas kommst, aber vermutlich hast du im Delirium gewisse Zwangsvorstellungen.«
Gudrun spürte förmlich, wie sehr Annette sich zusammenreißen musste, nicht über sie herzufallen. Aber das Bügelbrett stand zwischen ihnen, und sie würde vor ihrer Tochter keinen Zentimeter weichen.
»Der Keller ist zugeschlossen, ich wollte selbst nachsehen. Warum? Er ist sonst immer offen. Wo ist der Schlüssel?« Annettes Stimme klirrte vor Anspannung und Härte.
Gudrun seufzte demonstrativ. »Ich habe den Keller abgeschlossen, weil ich mit meiner psychisch labilen Tochter zusammenwohne, die auf dumme Gedanken kommen könnte.«
»Schwachsinn! Ich verlange, dass du mir sofort den Kellerschlüssel gibst. Oder mit mir runtergehst und mir beweist, dass das nicht stimmt!«
Annette ging zwei Schritte auf ihre Mutter zu, und Gudrun hob sofort das Bügeleisen und hielt ihrer Tochter die heiße Fläche entgegen.
»Bleib weg von mir!«
Annette verzog den Mund, es sah aus wie eine Mischung aus Schmerz und Weinen. »Du bist doch krank, Mama.«
»Hau ab! Ich lass dich nicht in den Keller! Du kannst machen, was du willst.«
Im Bruchteil einer Sekunde trat Annette gegen das Bügelbrett, das nach hinten kippte und Gudrun mit sich riss. Sie knallte mit dem Kopf gegen die Spüle, das Bügeleisen fiel ihr aus der Hand und polterte zu Boden. Gudrun wurde kurz schwarz vor Augen, gleichzeitig schrie sie laut und schrill auf. Ihre Tochter war sofort über ihr. Sie packte das heiße Bügeleisen und hielt es Gudrun vors Gesicht, mit der anderen Hand riss sie an dem langen weißen Zopf ihrer Mutter. Dabei brüllte sie ihr ins Gesicht, als sei sie von Sinnen: »Wo ist der Schlüssel?! Das ist mein Haus!«
Gudrun war außerstande zu antworten, ihr ganzer Körper tat weh, und ihr Kopf dröhnte unsäglich, sie war vor Panik und Schmerz nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, während Annette an ihren Haaren riss und vor ihrem Gesicht die glühend heiße Metallfläche schwebte.
Annette nutzte die Gelegenheit und fasste ihr in die Kittelschürze. Sie drohte noch einmal mit dem heißen Eisen, dann schnappte sie sich den Schlüssel, warf das Bügeleisen achtlos auf den Fußboden, zog noch einmal fest an Gudruns Zopf und stürmte aus der
Weitere Kostenlose Bücher