Postkarten
mühte.
In der Stille der Morgendämmerung begann das Laub zu fallen, und es fiel und fiel, den ganzen Tag über. Laub landete auf den Zweigen junger Schößlinge, glitt und rutschte Äste und Stämme hinunter. Laub streifte Laub und riß es los, die schweren Stiele zogen es nach unten. Es raschelte, als es gegen Zweige fiel, traf mit einem leisen, ledrigen Klatschen auf.
Das erste Mal, daß er sie sah. Das raschelnd, flüsternd fallende Laub. Durch diese träge Laubkaskade fuhr er zum Haus seines Onkels.
»Fahr los und hol deine Mutter drüben bei Ott ab. Diese blöde Kartenrunde. Und mach schnell.« Mink, der aus dem Milchraum rief: »Beeil dich.«
Vier leere Autos unter den Bäumen, die Räder gegen den Hang eingeschlagen. Die Fenster im Erdgeschoß erleuchtet, der Stall noch dunkel, auf einer nahegelegenen Weide läuteten Kuhglocken und johlten Otts Jungen.
Er fuhr an den geparkten Wagen vorbei bis an die Spitze der Reihe und stellte sich vor ein blaues Studebaker-Coupé. An den Kotflügel gelehnt, stand eine Frau, rauchte eine Zigarette, beobachtete ihn beim Heranfahren. Noch unter den Bäumen registrierte er alles, das spitze Fuchsgesicht, das schicke Georgettekleid mit dem weißen runden Kragen, das Jäckchen mit den gebauschten Ärmeln, den vollen Mund, den nahezu schwarzen Lippenstift. Nicht sehen konnte er ihr Haar, das unter einem Goldlaméturban hochgesteckt war. Sie strahlte einen seltsamen Glanz aus, wie Reklame in einer Illustrierten, seltsam und schön, wie sie mordsmäßig aufgedonnert vor Otts Baum stand, an dem ein aufgehängter Reifen baumelte und unter dem das Gras mit Entenkot bespritzt war. Er stieg aus.
»Verflixt will ich sein«, sagte sie. »Verflixt will ich sein, wenn das nicht Mr. Loyal Blood höchstpersönlich ist. Verflixt.«
Er hatte sie noch nie gesehen.
»Wetten, du kennst mich nicht mehr. Wetten, du weißt nicht, wer ich bin.« Die scharfen Zähnchen blitzten ihn an. Sie zwinkerte. »Denk mal zurück an das Picknick in der achten Klasse. Am Vogel-im-Fels-Teich. Die wilden Erdbeeren. Ein paar von uns haben wilde Erdbeeren gepflückt, als wären es die letzten auf der Welt. Neben dir hat Beatrice Handy gepflückt - das war ich. Aus Bonnet Corners. Ich hatte was für dich übrig. Aber jetzt heiße ich Billy. Sag ja nicht Beatrice zu mir, wenn dir deine Gesundheit was wert ist. Dich würd’ ich überall wiedererkennen. Hier kann’s unmöglich zwei so gutaussehende Burschen geben.«
Er erinnerte sich an die Erdbeeren, Jesus Christus, an die Erdbeeren erinnerte er sich genau, die Erleichterung, von den kichernden Schreihälsen fortzukommen, fremde Kinder von den anderen Schulen des Bezirks, wie er sich davonstahl von den Picknicktischen, den Stapeln von Papptellern, auf denen Senf und Gläser mit Essiggemüse standen. Er schlug sich in die Birken und fand die Wiese mit den roten Sternen. Er erinnerte sich, lange Beeren gepflückt zu haben. Weg von den anderen, dreizehn Jahre alt, allein beim Walderdbeerenpflükken. Hatte er überhaupt eine Bockwurst gegessen? Er schüttelte den Kopf. In Otts Wohnzimmerfenster waren jetzt die ausgestreckten Arme von Frauen zu sehen, die ihre Mäntel anzogen.
Billy zog an ihrer Zigarette, ihre Nägel glänzten.
Er schüttelte eine Zigarette aus seiner Packung, zündete sie an. »Du bist nicht auf die Cream Hill High School gegangen. Dich hätte ich nicht vergessen.«
»Nee. Wir haben zwei Jahre lang in Albany nicht weit von meiner Tante und meinem Onkel gewohnt. Albany, New York. Zivilisation. Aber wir sind wieder hierhergezogen, als ich sechzehn war. Ich bin von der Schule ab und hab’ zu arbeiten angefangen. Hab’ mich seitdem immer selbst ernährt. Ich hab’ bei Horace Pitts in Barre gearbeitet, bei Meecham in Montpelier, bei Capitol Sundries, bei Lacoste’s Corsets, meistens als Verkäuferin, aber bei Lacoste war ich Hilfsgehilfin beim Einkauf, dann hab’ ich wieder in Barre gearbeitet, als Bedienung im Bobby’s Rare Steaks und in La Fourchette. Für Mr. Stovel, den Rechtsanwalt in Montpelier, hab’ ich Sekretärinnenarbeit gemacht, bis Mr. Stovel sich letztes Frühjahr selber an die Sekretärinnenarbeit machen wollte, da hab’ ich gekündigt. Letztes Frühjahr hab’ ich mit dem angefangen, was ich jetzt mache und schon als Zehnjährige machen wollte. Singen. Ich singe in einem Nachtklub. Und da fahr’ ich jetzt hin, wenn ich meine Mutter daheim abgesetzt hab’. Nur für den Fall, daß du glaubst, ich lauf’ immer in solchen
Weitere Kostenlose Bücher