PR 2685 – Der ARCHITEM-Schock
musste, ihn aber keineswegs besonders berührte. In seiner Trauer störte ihn das alles nur.
Die aufleuchtenden Anzeigen lösten ebenso wenig in ihm aus und berührten ihn kaum. Sein Blick verlor sich im Dickicht der wieder aufbrechenden Empfindungen: der letzte Abend mit Onny und Manda. Mit etlichen Freunden hatten sie ihn in der legendärsten Raumfahrerkneipe Terranias verbracht. Die Wände im Old Rocketman waren vollgehängt mit altmodischen, längst leicht verblassten Papierfotos, und das Plappermaul Onny hatte den ganzen Raum unterhalten. Zu jedem Bild hatte er irgendeine Geschichte zum Besten gegeben – Varro wusste bis heute nicht, was daran der Wahrheit entsprach und was Onny schlichtweg an Raumfahrergarn gesponnen hatte. Er entsann sich eines großformatigen Bildes mit schwungvoller Widmung von Guy Nelson, daneben hing ein Foto, auf dem sich ein Oxtorner namens Omar Hawk in Pose geworfen hatte ...
Erneut kamen Varro die Tränen, er konnte es nicht verhindern. Eiseskälte stieg in ihm auf und schüttelte ihn. Er biss die Zähne zusammen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und die Augen. Sein Bruder Onny fehlte ihm mehr als alles andere, sogar einige Jahrzehnte nach seinem Tod. Varro fragte sich, warum ihm das all die Jahre hindurch nie so intensiv bewusst geworden war wie in diesem Moment.
Onny hatte damals das große Los gezogen. Mit achtzehn als wissenschaftlicher Assistent an Bord eines Explorers auf großer Fahrt. Manda war ebenfalls dabei. Veranschlagte Dauer der Expedition mindestens fünf Jahre. Varro entsann sich, wie glücklich sein Bruder deshalb gewesen war. Und dann ...
Sein eigenes leises Wimmern erschreckte ihn. Der Versuch, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, scheiterte sofort wieder, die Trauer hielt ihn unbarmherzig im Griff. Callis Varro spürte, dass er kurz davor stand, zu hyperventilieren; er atmete immer hastiger, keuchend schon, als müsse er im nächsten Moment ersticken. Stöhnende Laute quollen über seine Lippen.
Jemand redete mit ihm.
Varro ignorierte es. In seinen Schläfen rauschte das Blut. Zitternd und in ohnmächtiger Hilflosigkeit warf er den Kopf zurück.
Die Stimme erwies sich als hartnäckig. Dröhnend fraß sie sich in seinen Gedanken fest.
»... in Gefechtsbereitschaft versetzt, da die Besatzung nicht handlungsfähig ...«
Varro schloss die Augen. Sofort überfielen ihn wieder die Bilder aus der Kneipe ... der Leichnam nach dem Unfall, nur einen halben Tag später ... der Sarg ...
»Mittlerweile sind es mehr als zehntausend fremde Raumschiffe, die aus Neptuns Atmosphäre aufsteigen, und der Zustrom hält unvermindert an.«
Varro wimmerte. Er schüttelte den Kopf. Aber die Stimme ließ sich nicht so einfach abstellen, sie redete weiter, ohne danach zu fragen, wie er sich fühlte. Sie quälte ihn in seiner Trauer.
»Die ersten Schiffe nehmen Kurs auf die inneren Planeten und Sol. Andere nähern sich der Sextadimblase. Die Hochrechnung ergibt eine sehr große Wahrscheinlichkeit für einen bevorstehenden Angriff auf den systemumspannenden Schutzschirm.«
Die Stimme gehörte Fred, der Hauptpositronik. »Bitte verschone mich mit deinen Feststellungen«, wollte der Kommandant des Schweren Kreuzers BAMAKO sagen.
»Wie hoch?«, fragte er stattdessen.
»Neunundneunzig Prozent.«
Varro schwieg, rieb sich verwirrt den Nacken.
»Soeben wurde ein unvollständiger Notruf aufgefangen. Zwei Schlachtkreuzer der MARS-Klasse im Anflug auf Neptun ...«
Ruckartig hob Varro den Kopf.
»Beide Schiffe sind explodiert.«
Stöhnend vergrub der Kommandant sein Gesicht in den Händen. Das bedeutete Hunderte von Toten. Er zweifelte nicht daran. Hunderte Schicksale wie das seines Bruders. Und noch mehr Mütter und Väter, Geschwister und Freunde, die mit der Trauer zurechtkommen mussten.
»Deine Befehle, Kommandant!«
Befehle? Damit es weitere Tote gibt, Verwundete, für immer Gezeichnete? Callis Varro biss die Zähne zusammen und schwieg.
Die Positronik fragte noch einmal.
Dann: »Ich stelle die Handlungsunfähigkeit der Besatzung fest und einen nicht zu behebenden Notfall. Gemäß Weisung übernehme ich alle Funktionen. Die BAMAKO wird in Sicherheit gebracht.«
Gut, dachte Varro. Bring mich zu Onnys Grab.
Das Grab im Osten von Terrania, dem Handelshafen Point Surfat zugewendet, existierte nicht mehr. Entsetzt erinnerte Varro sich, dass er vor zehn Jahren der Auflösung zugestimmt hatte. Der Friedhof, einer der wenigen, auf denen überhaupt noch Erdbestattungen
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