PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
Fehlerhaftes in einem menschlichen Körper. Und nun sollte sie medizinische Fachtermini verwenden, damit die Ärzteschaft ihre persönlichen Eindrücke verstehen konnte?
Nein. Sie durfte sich nicht verkaufen und allzu weit von ihrem eigentlichen Ich entfernen. Sonst würde sie ihre Gabe völlig verlieren.
Sue wandte sich einem Minderjährigen zu, der einsam und verloren dasaß. Seine Finger glitten über die Bedienfelder eines Pods. Über die Datenbrille, ein Modell neuester Fertigung, huschten bunte Bilder, die nur er in ihrer Gesamtheit erfassen konnte. Er beschäftigte sich mit einem Spiel, scheinbar hoch konzentriert, blickte aber immer wieder über den Rand der Brille, als wäre er hochgradig nervös.
»Hallo«, sagte sie und setzte sich neben ihn.
Er sah sie an, gab keine Antwort und rutschte von ihr fort, um sich weiterhin mit seinem Spiel zu beschäftigen. Er fürchtete sich.
»Ich bin Sue. Und du?«
»Mark.«
»Wie geht's dir, Mark? Warum bist du hier?«
»Was interessiert ...«, begann er unwillig und senkte dann die Stimme, als er bemerkte, dass andere Wartende ihn anstarrten. »Was interessiert dich das?«, fragte er in gemäßigtem Tonfall. »Ich warte drauf, dass mein Arzt Zeit für mich hat.«
»Meinst du Frank Haggard?«
Mark zuckte zusammen. Er packte das Spiel und die Datenbrille weg, wollte aufstehen, den Wartesaal verlassen.
Sue hielt ihn sachte zurück. »Keine Angst! Ich bin eine Art ... Schwester. Jedermann hier kennt mich.« Sue nickte der Empfangsdame zu, die winkte müde zurück. »Ich helfe Doktor Haggard dabei, seine Patienten auf die Untersuchung vorzubereiten.«
»So etwas habe ich noch nie gehört.« Mark blieb misstrauisch. »In den anderen Kliniken, in denen ich bisher war, kümmerten sich bloß Ärzte und Schwestern um mich.«
»Hier ist alles ein bisschen anders. Das ist wohl einer der Gründe, warum du nach Terrania gekommen bist, nicht wahr?«
Sue tastete nach ihm. Ruhig und sachte. Sie ging die üblichen Wege, unternahm eine oberflächliche Kontrolle seiner Körperfunktionen und drang allmählich tiefer in dieses Zauberreich ein, das den menschlichen Organismus ausmachte.
»Ja«, sagte Mark, wenig überzeugt. »Aber ich glaube, es war ein Fehler von meinen Eltern, mich hierher zu schicken.«
»Warum sind sie nicht bei dir?«
»Weiß nicht. Haben viel zu tun. Geld verdienen und so.«
Halte das Gespräch im Gang, Sue! Sorg dafür, dass er sich entspannt. Sein Puls beruhigt sich allmählich, das Herz schlägt langsam und regelmäßig. Das Blut ...
Sue sah und fühlte die Anzeichen. Wegen der Schädigungen wurde es ihr heiß und kalt zugleich. Da war die Lydodystrophie, eine schadhafte Veränderung des Unterhautfettgewebes. CD4-T-Helferzellen fehlten. Sie waren geschwächt, konnten das Immunsystem nur noch mangelhaft aufrechterhalten und den Lentiviren kaum Widerstand entgegenbringen. Mark stellte sich auf dieser Ebene als ... als glutrot dar. Er war von einer Abart des HI-Virus befallen, wahrscheinlich der des Nomaynchuk-Virus, der für seine Aggressivität bekannt war.
Sue legte ihm eine Hand aufs Knie, während sie in ruhigem Ton weiterredete. Mark kniff die Augen zusammen als Zeichen des Schmerzes. Das Augenklar besaß einen Gelbschimmer, die Gesichtshaut war viel zu trocken, fast pergamenten.
»Ich glaube, dass Doktor Haggard dir helfen kann«, sagte sie. »Aber du musst dich an all das halten, was er dir vorschreibt. Nur dann wirst du wieder ganz gesund. Hast du mich verstanden?«
»Was soll das?« Mark schüttelt unwillig den Kopf. »Hast du etwa den Röntgenblick, dass du weißt, was mir fehlt?«
»Der Röntgenblick würde hier nicht reichen.« Sue zog sich aus dem Jungen zurück. Sie lächelte. »Aber ich besitze Empathie. Ich erkenne Anzeichen von Krankheiten früher als andere Menschen. Frag die behandelnden Ärzte hier; sie werden es dir bestätigen.«
Dies war die offizielle Lesart ihrer Begabung. Sue galt als Wunderkind, als besonders begabte Medizinstudentin, die Krankheiten schneller als alle anderen Beschäftigten hier diagnostizieren konnte. Was die wenigsten Menschen wussten, war allerdings, dass sie auch heilte. Dass sie Tag für Tag zwanzig bis dreißig Patienten von ihren Beschwerden befreite und bei mehr als hundert weiteren prophylaktisch eingriff, sodass den behandelnden Ärzten nur noch Routinearbeit zu erledigen blieb.
»Frank Haggard kann dir helfen«, versicherte sie dem Jungen nochmals. Sie nahm einen Block zur Hand und schmierte
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