PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
ausdrücken musste. Doch es fehlten ihr die Worte. Sie blickte auf den Stumpf, der ausgezeichnet wundverschweißt worden war. Bald würde man die Narbe nicht mehr erkennen können.
Ihr Arm fehlt. Ihr Arm fehlt. Dieser eine Satz spukte ihr im Kopf herum. Er war wie ein nicht enden wollendes Mantra, das ihr jemand vorbetete.
Dharma streckte ihre Hand aus und streichelte zärtlich über ihre Wange. »Du bist die Wunderheilerin, stimmt's? Du kannst das wieder in Ordnung bringen. Du lässt mir einen neuen Arm wachsen, und alles wird wieder gut. Es wird so sein, als hätte ich bloß einen schlechten Traum gehabt. Ich werde aufwachen, werde mich anziehen, mir ein Frühstück machen, ein Stück Brot vom Laib abschneiden – und das alles ohne die geringste Mühe. Nicht wahr?« Die Stimme kippte ins Hysterische. »Du wirst das für mich erledigen. Du bist es mir schuldig. Die Stadt ist es mir schuldig! Ich habe meine gut bezahlte Arbeit in Manhattan aufgegeben, um hierherzukommen und beim Aufbau Terranias mitzuhelfen. Es ist nicht fair, dass mir so etwas passiert. Bring das gefälligst wieder in Ordnung. Hast du mich verstanden? Hast du mich verstanden?«
Sue drehte sich beiseite, riss sich los. Sie lief, so schnell sie konnte. Weg von hier, bloß weg von dieser Frau, die über ihrem Problem verrückt zu werden drohte. Sie benötigte unbedingt frische Luft, musste mal kräftig durchatmen und diese Schwäche überwinden, die sie gepackt hatte.
Dharma hatte nur noch einen Arm, wie auch sie selbst seit ihrer Geburt bloß mit dem Rechten hatte auskommen müssen.
Fulkar hatte ihr einen neuen gezüchtet, und seitdem war sie ... ganz. Manchmal sogar mehr als ganz. Dann wurde die Linke zu einem Ding, mit dem sie nicht allzu viel anzufangen wusste. Und in Momenten wie diesen hasste sie sie.
3.
Die Geheimnisse des Jungen
Die Explosionen ereigneten sich irgendwo im Bereich der Werften. Mehr als 40 Prozent aller wracken Schiffe weltweit wurden an den Küstenstreifen zwischen Kumira im Norden und den südlichen Ausläufern Chittagongs in den Schlamm gefahren. Mehr als 250.000 Menschen zerlegten die Wracks in mühsamer Handarbeit. Sie recycelten die wertvollen Rohstoffe und verschifften sie, meist nach China oder Indien. Die wertvollsten Technikteile verschwanden indes über dubiose Kanäle.
Die Werften von Chittagong waren der größte Devisenbringer Bangladeschs, eines Staates, in dem Recht und Ordnung bestenfalls von Warlords aufrechterhalten wurde. Gelegentlich gab es Anzeichen einer sich stabilisierenden Zivilgesellschaft. Es wurde von Gnao geredet, der den Free State of Chittagong etablieren wollte. Doch seine Ideen wurden noch längst nicht von jedermann gutgeheißen in dieser Stadt, in der Armut und Gewalt die bestimmenden Faktoren waren.
Was für eine Situation ... Die einfachen Menschen hoffen darauf, dass sich ein gewissenloser Verbrecher durchsetzt.
Kakuta blickte auf die Straße hinab. Die Bodyguards organisierten sich. Einer von ihnen telefonierte aufgeregt. Als er Tako am Fenster entdeckte, bedeutete er ihm, das Licht abzudrehen und sich weiter ins Innere des Zimmers zurückzuziehen.
Kakuta verstand: Sie standen da wie auf dem Präsentierteller, eingerahmt von hellem Licht, das es ringsum nirgendwo sonst gab. Er winkte dem Bodyguard dankbar zu. Es war ungewöhnlich, dass sich ein Mitglied dieses Berufsstandes um jemanden sorgte, der ihn nicht bezahlte.
Er zog Sengu mit sich. Sie setzten sich auf ihre Betten und aßen Trockenfrüchte, die sie aus Terrania mitgebracht hatten. Mit in Plastikflaschen abgefülltem Wasser spülten sie nach.
Nur zu gerne hätte Kakuta einen Saki getrunken. Er gab sich ruhig, doch er konnte die Anspannung ebenso wenig verbergen wie Sengu. Es geziemte sich nicht, Angst zu zeigen. Die traditionelle Erziehung, die er trotz anarchistischer Zustände im Bereich der Präfektur Fukushima genossen hatte, war ihm Schutz und Zuflucht in Stunden wie diesen.
»Es wird bald aufhören«, mutmaßte Sengu. »Es geht gewiss nur um Gebietsstreitigkeiten. Zwei Warlords, die einander spinnefeind sind, hetzen ihre Truppen aufeinander. So wie gestern, so wie vorgestern.«
»Heute sind die Auseinandersetzungen heftiger als zuvor«, widersprach Kakuta und deutete auf eine Feuerblume, die am Horizont aufleuchtete. Das Grollen der Explosion kam zeitverzögert. Das Hotel erzitterte in seinen Grundfesten, irgendwoher kamen Schreckensschreie.
Sie blieben sitzen, klamm und von hässlichen Gedanken
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