PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
tagtäglich im Kampf mit elenden Bürokraten und Geldgebern zu strapazieren.
Nein – Sues Platz war da draußen, in dieser unendlichen Ferne des Weltraums, zu der sie vor Kurzem die Tore einen Spaltbreit aufgemacht hatten. Sie würde von Wesen wie Fulkar lernen, würde viel über Moral und Ethik erfahren, fremde Kulturen kennenlernen und ihre ungewöhnlichen Kräfte zum Wohl der Menschen und den Angehörigen anderer Völker einsetzen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg, und er musste sie dazu bringen, ihn möglichst trittfest zu begehen.
»Du bleibst hier!«, sagte Marshall mit fester Stimme. »Ich brauche Entlastung. Du hast nichts anderes zu tun, als auf Quiniu zu achten und mit ihr zu reden. Sie soll spüren, dass sich jemand um sie kümmert.«
»Geht es der Verrückten denn so schlecht?«
»Ich erlaube nicht, dass du so über sie sprichst!«
»Normal würde ich ihr Verhalten nicht nennen.«
»Warum benimmst du dich so seltsam, Sue? Du hast dich um Quiniu auf Wanderer gekümmert, hast sie vor Thora beschützt und ihr gar das Leben gerettet. Warum redest du nun so abschätzig über sie?«
»Na ja, ist halt so«, murmelte Sue verlegen.
Sie ist heillos überfordert, keine Frage. »Quiniu Soptor ist eine außergewöhnliche Patientin, die außergewöhnliche Dinge erlebt hat. Was auch immer mit ihr geschehen ist: Wir alle hier im Lakeside Institute müssen unser Bestes geben, um sie aus ihrem Nirgendwo zurückzuholen. Und ich hätte gern, dass du deinen Teil dazu beiträgst.«
»Ich bin Metabio-Gruppiererin. Ich identifiziere körperliche Gebrechen und heile sie, so gut es geht. Aber bei dieser Frau gibt es nichts zu identifizieren und erst recht nichts zu heilen. Sie ist Gemüse.«
Marshall hielt die Luft an. Meinte Sue, was sie sagte?
Er musterte sie. Er sah ein sechzehnjähriges Mädchen, das Trotz zeigte und seine Stacheln bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufstellte. Das dringend eine Ablenkung benötigte. Oder eine neue Herausforderung.
»Du bist noch längst nicht so weit, wie du es gerne hättest. Deine Fähigkeiten sind beeindruckend, und du unternimmst alles, um sie zu trainieren. Aber dieses Training ist einseitig. Du beschäftigst dich nur mit einem einzigen Aspekt dessen, was es braucht, um Menschen wirklich zu helfen. Mit ihrer körperlichen Gesundheit.«
»Weil ich nur körperliche Gebrechen behandeln kann!« Sue trat mit einem Fuß feste auf, zornig wie Rumpelstilzchen. »Im Kopf von Quiniu gibt es nichts, was ich umgruppieren und heilen könnte. Da geschehen Dinge, die ich nicht verstehe, die niemand versteht! Darf ich dich dran erinnern, dass Neurologen, Psychotherapeuten und Psychologen monatelang und erfolglos versucht haben, ihr zu helfen? Wie sollte also ich an sie rankommen?«
»Indem du es versuchst.«
»Wie bitte?«
»Deine Aufgabe ist folgende, Sue: Du wirst noch heute damit beginnen, dich mit Quiniu auseinanderzusetzen. Du wirst in ihrer Nähe bleiben, sie beobachten, ihren Bau- und Spieltrieb kennenlernen, ihr kleine Dinge reichen, die sie benötigt. – Keine Angst, sie braucht im täglichen Leben kaum Hilfe. Sie erledigt ihre Hygiene selbstständig und zieht an, was du ihr hinlegst. Was du allerdings tun musst, ist, ihren Verstand zu fordern und ihr Aufgaben zu stellen. Die Fachleute meinen, dass sie Reize von außen erhalten soll.« Marshall hielt inne und dachte nach. »Ihr bekommt ab morgen ein gemeinsames Quartier zugeteilt. Ein neues, das Quiniu noch nicht kennt. Das bedeutet, dass du sie daran gewöhnen und überwachen musst.«
»Ich bin doch kein Kindermädchen!«
»Quiniu ist eine hochintelligente Frau. Ich bin mir absolut sicher, dass sie trotz ihrer derzeitigen Einschränkungen ganz genau weiß, was sie will. Wir müssen bloß herausfinden, was es ist. Du wirst herausfinden, was es ist.«
»Ich will das nicht machen! Ich möchte zurück ins Central. Dort kann ich helfen, dort werde ich gebraucht.«
»Du lehnst es also ab, einem Menschen in Not zu helfen? Bloß, weil es sich um eine neue, um eine andere Form von Not handelt, mit der du noch nicht zu tun hattest?«
»Du drehst mir das Wort im Mund herum, John! Ich möchte meine Fähigkeiten verbessern, und zwar am richtigen Ort!«
»Ich kann niemanden brauchen, der sich bloß mit den medizinischen Aspekten auseinandersetzt, aber nicht mit dem Patienten selbst!« John hieb verärgert gegen die Lehne seines Stuhls. »Jemandem zu helfen bedeutet: zuhören. Beobachten. Sich in ihn hineinversetzen. Alles
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