PR NEO 0045 – Mutanten in Not
beeindruckende Energie und Intensität ausgezeichnet: In jeden Neubeginn hatte er sich mit ganzer Kraft gestürzt, stets Freunde und Freundinnen gefunden und sie in den Bann seines Charismas gezogen. Dank deren Postings, vor allem in diversen sozialen Netzwerken, erfuhr Caroline allerhand über Noirs Vorleben, egal wie er sich an den jeweiligen Stationen, meist im Einklang mit der Landessprache, genannt hatte.
Nicht jedes Fahndungsergebnis ließ sich zu einem hohen Prozentsatz verifizieren. Aber bei vielen passten Parameter wie Alter, Personen- und Charakterbeschreibung, französischer Akzent et cetera so genau, dass eine zufällige Übereinstimmung guten Gewissens ausgeschlossen werden konnte. Die beigefügten Fotos, obwohl großteils amateurhafte Schnappschüsse mit niedriger Auflösung, beseitigten die letzten Zweifel.
Noch ein weiteres Merkmal hatte Caroline in die Filtermatrix der Suchroutine eingebaut: kürzlich aufgetretene Todesfälle im engeren Bekanntenkreis.
Deshalb Sarajevo.
André Noir alias Andriko Crno hatte 2029 an der renommierten Filmakademie der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas studiert und vier experimentelle Kurzfilme gedreht, stets mit demselben Koregisseur, Predrag Žbanić. Zwei dieser Werke waren im Rahmen von Festivals gezeigt worden, ohne viel Anklang zu finden. Eine Kritik in einem Online-Kulturmagazin bezeichnete den Versuch, der uralten Kunstform des Schattentheaters mit Mitteln der Computeranimation neues Leben einzuhauchen, als »ambitioniert, doch letztlich misslungen, da am zu hohen Anspruch gescheitert«.
Schattentheater.
In Chittagong hatte Noir den Decknamen »Shadow« benutzt. Und am zu hohen eigenen Anspruch gescheitert war er nach allem, was man wusste, auch dort.
Žbanić. und Crno traten weiterhin als tonangebende Mitglieder einer interdisziplinären Künstlergruppe auf, die fast jedes Genre ohne viele Skrupel ausprobiert hatte. Dabei hatten sie sich freihändig bei Vorbildern vom Dadaismus über die Fluxus-Bewegung bis zur Neuen Slowenischen Kunst der Laibach-Rabauken bedient.
»Predrag war ein Feuerkopf, der keine Grenzen und Regeln akzeptierte«, sagte Kriminalinspektorin Danica Borovac, mit der sich Caroline noch während ihrer Anreise verabredet hatte. »Logischerweise stieg er dabei einer Menge Leuten auf die Zehen oder spuckte ihnen in die Suppe. Beides hat er übrigens einmal tatsächlich getan, im Rahmen einer spontanen Performance bei einem Staatsbankett! Ihm war nichts heilig, alles hinterfragte er, indem er es mit Spott überzog, sogar den Cellisten und die Rosen von Sarajevo.«
»Bedaure, diese Begriffe sagen mir nichts«, gestand Caroline.
»Die Rosen sind dezentrale Gedenkstätten im Straßenbild unserer Stadt. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, während der Belagerung im Bosnienkrieg, übrigens der am längsten dauernden Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte der modernen Kriegführung, wurde Sarajevo fast vier Jahre lang täglich von serbischer Artillerie beschossen. Rund elftausend Zivilisten kamen dabei ums Leben. Die Granateinschläge hinterließen auf dem Asphalt Spuren, deren Form vage an eine Blume erinnert. Viele der Krater wurden von der Bevölkerung mit rotem Harz ausgegossen, um daran zu erinnern, dass an dieser Stelle ein Mensch durch einen Mörser starb. Das sind die Rosen von Sarajevo.«
»Schöne Idee«, sagte Caroline kurzatmig. Sie stiegen einen schmalen Weg bergan, und die bosnische Kollegin legte ein flottes Tempo vor. Normalerweise hätte sie problemlos mitgehalten, aber ihre Brust und Luftröhre brannten wie Feuer.
»Sie werden nach wie vor gepflegt und in Ehren gehalten. Kaum ein Bewohner, der nicht einen persönlichen Verlust mit einer dieser Blumen des Bösen verbindet. Von daher können Sie sich vielleicht vorstellen, welchen Aufschrei Predrag Žbanić. mit einer Kunstaktion auslöste, die er ›Die Gürtelrosen von Sarajevo‹ betitelte.«
»Wie die Viruserkrankung?«
»Ein doppeltes Wortspiel. Die Aktion sollte die missliche Situation der Prostituierten ins Bewusstsein rufen, die entlang des äußeren Straßengürtels ihre Sexarbeit verrichten; daher Gürtelrosen, Sie verstehen? Zumal sie nicht selten von der Politik auch wie eine Form gesellschaftlicher Herpes behandelt wurden. An sich ein legitimes Ansinnen, wenn Sie mich fragen. Aber für viele, die noch vier Jahrzehnte später unter den Folgen der Belagerung leiden, ging die Gleichsetzung mit den Kriegsopfern denn doch zu weit.«
Caroline bemerkte, dass
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